Bis du erwachst
Lena hatte von irgendeinem Typen erzählt, dem sie auf dem Weg zur Arbeit im Bus begegnet war, und dass sie seinetwegen vielleicht eine andere Route nehmen wollte. Aber Cara konnte sich nicht erinnern, ob der Mann sie belästigt hatte oder ob etwas anderes vorgefallen war. Sie wusste es einfach nicht mehr. Sie war einfach die ganze Zeit damit beschäftigt gewesen, mit ihrem Wagen und ihrem neuesten Paar Stilettos anzugeben. Und all das war plötzlich vollkommen unwichtig. Sie schloss die Augen und versuchte krampfhaft, sich genauer daran zu erinnern, worüber sie an jenem Tag gesprochen hatten. Über den Mann. Was Lena an jenem Abend hatte essen wollen, Cara hätte so gern etwas gehabt, irgendetwas, was ihr Lena näherbringen würde. Aber sie konnte sich nur noch an ihre eigene Stimme erinnern. Sie hatte Lena überhaupt nicht zugehört.
So konnte es doch nicht immer gewesen sein?
Cara drückte die Hand ihrer Schwester. Typisch Lena Curtis – immer dachte sie nur an andere! Jedes Mal, wenn jemand Geburtstag hatte oder ein Kind zur Welt kam, war Lena als Erste zur Stelle – mit einer Karte, einem Geschenk, einem freundlichen Wort. Nie vergaß sie irgendetwas oder irgendwen. Sie schien nach ihren Listen zu leben. Ständig plante sie irgendetwas. Cara hatte sie immer wieder auf die Tagebuch- und Memofunktion ihres Handys hingewiesen, aber nein, Lena bestand darauf, sich die Dinge aufzuschreiben, ganz altmodisch. Sie hasste es, etwas zu vergessen.
Wetten,
das
hat nicht auf deiner Liste gestanden, große Schwester, dachte Cara traurig und betrachtete Lena. Ihre Locken glänzten im Licht. Als Teenager hatte sich Lena einmal blaue Strähnchen gefärbt, aber das war auch so ziemlich das Unvernünftigste, was sie je getan hatte. Ihr verschmitzter Humor passte so gar nicht zu ihrer vernünftigen Natur. Ja, Lena war die Bodenständige, die Durchdachte. Cara ging Risiken ein. Und Millie … nun, Millie war einfach Millie.
Ade kam mit dem Kaffee zurück. «Ich bin eben von dem Hotel in Brasilien zurückgerufen worden.»
«Ach, ja», erwiderte sie gähnend.
«Deine Mutter ist schon wieder abgereist.»
«Wohin?»
«Keine Ahnung. Vielleicht zu einem Freund? Kennt sie in Rio de Janeiro jemanden? Oder in Saõ Paulo?»
«Woher soll ich das wissen? Ich meine, wie schwer kann es denn sein, eine Rentnerin zu finden?»
«Brasilien ist groß, Babe.»
Sie wusste, was Ade dachte. Er stellte sich seine eigene, eng miteinander verbundene Familie vor, in der keiner auch nur niesen konnte, ohne dass die anderen es sogleich erfuhren. Sie trafen sich regelmäßig, riefen einander an und wussten immer genau, was die anderen trieben. Cara war das völlig fremd. Wenn einer aus Ades Familie in Schwierigkeiten geriet, versammelte sich sofort der ganze Clan, um die Sache zu regeln. Sie wusste, dass er es merkwürdig fand, dass sie nicht die Adressen aller Hotels aufgeschrieben hatte, die ihre Mutter auf ihrer Reise durch Brasilien ansteuern würde. Aber die Einzige, die sich diese Mühe gemacht hätte, war Lena. Und die war nicht ansprechbar.
«Hoffentlich kommt sie bald zurück. Sie wird vollkommenfertig sein, wenn sie erfährt, dass Lena schon seit beinahe zwei Wochen so daliegt, ohne dass sie davon weiß», seufzte er.
«Da wäre ich mir nicht so sicher. Bei ihr kommt an erster Stelle erst einmal sie selbst. Wenn ihre Tochter im Krankenhaus liegt, lässt sie sich davon noch lange nicht aus der Ruhe bringen», platzte Cara heraus und hatte sofort ein schlechtes Gewissen. Das musste Lena ja nicht hören.
«Wir finden sie, okay?», beruhigte Ade sie und rieb ihr sanft die angespannte Schulter.
Doch Cara sah ihre Schwester an. Im Augenblick fühlte sie sich ziemlich hoffnungslos.
5
«MILLIE!»
«Hmm? Cara?», sagte Millie in ihr Handy und schaltete den Staubsauger aus.
«Ich versuche dich schon seit einer halben Stunde zu erreichen!»
«Ich habe gestaubsaugt.»
«Jetzt weiß ich, dass du lügst!»
«Hab ich wirklich!», protestierte Millie.
«Mir egal! Jetzt sieh bloß zu, dass du deinen dürren Hintern hier ins Krankenhaus herschwingst! Und zwar SOFORT!»
«Ist irgendwas passiert?»
«Wir warten schon seit einer halben Ewigkeit auf dich, und Ade und ich müssen in die Bar!»
«Ach so.» Sie fragte sich, warum die blöde Bar nie warten konnte.
«Tut mir leid, Cara, ich hab’s vergessen.»
«Dass deine Schwester im Krankenhaus liegt?»
«Nein! Natürlich nicht!» Millie hätte Cara zu gern einmal die Meinung gesagt,
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