Bis du stirbst: Thriller (German Edition)
surreale Erfahrung, sich selbst im Fernsehen zu sehen, denkt Sami, als er sieht, wie die Figur die Oxford Street entlangrennt. Nur ist das hier kein Spielfilm. Er spielt sich selbst. Sami, wie er rennt. Sami, wie er springt. Sami, wie er Fußgänger umrennt.
Da ist ein neues Spruchband, das den unteren Teil des Bildschirms entlangläuft: MUTMASSLICHER ATTENTÄTER FLÜCHTET VOR DER POLIZEI .
Der Reporter redet immer noch: »Der Verdächtige wird beschrieben als: mittelgroß, leichter Körperbau, trägt Jeans und Sweatshirt, führt einen Rucksack bei sich …« In diesem Augenblick wird der Film angehalten, und es wird auf Samis Gesicht gezoomt. Ist er wirklich so bleich? Das ist die Gefängnisbräune.
Nervös sieht er sich in der Bar um. Alle gucken immer noch auf den Fernseher. Starren darauf. Denken über den Mann nach. Seinen Geist. Was geht in jemandem vor, der eine Bombe legt?
Noch ein Spruchband läuft unter dem Bildschirm entlang: SÄMTLICHER BUS- UND ZUGVERKEHR BIS AUF WEITERES EINGESTELLT .
Der Mann neben Sami stöhnt. »Vor einer Stunde hätte ich in Heathrow sein sollen. Mich hat es an der Piccadilly Linie erwischt.«
Er hat einen neuseeländischen Akzent. Das neben der Tür muss sein Gepäck sein.
Sami klemmt den Rucksack weiter hinten zwischen seine Beine, aber der Kiwi sieht es trotzdem.
»Im selben Boot, eh? Wo wollten Sie denn hin?«
»Nirgends«, sagt Sami.
»Auf dem Weg nach Hause, eh? Wo waren Sie?«
»Hier und da.«
Plötzlich dringt eine Frauenstimme schneidend in ihr Gespräch: »Er hat einen Rucksack!«
Samis Kopf ruckt, als hinge er an einer Schnur. Die Frau trägt einen Hosenanzug und zeigt anklagend auf ihn. Sie ist kurz davor loszukreischen. Ihr Blick begegnet Samis.
Alle in der Bar haben sich umgedreht, um ihn anzustarren. Sogar der Reporter auf dem Bildschirm scheint von dem Augenblick gefangen zu sein.
Sami streckt die Beine aus und stellt sie auf den Boden. Seine Hand ist immer noch um den Rucksackriemen geschlungen.
»Was haben Sie in dem Rucksack?«, fragt der Barkeeper.
»Klamotten und so.«
»Zeigen Sie’s uns«, sagt der Kiwi.
»Warum?«
»Weil Sie hier alle nervös machen.«
Sami blickt von Gesicht zu Gesicht.
»Ich bin nicht der Typ, der gesucht wird.«
»Das spielt keine Rolle.«
»Ich bin nicht gefährlich.«
»Das sagt ja auch keiner.«
Hinter Sami öffnet und schließt sich eine Tür. Jemand hat sich hinausgeschlichen. Wahrscheinlich wird er den erstbesten Polizisten anhalten.
Sami schwingt sich den Rucksack auf den Rücken. Ein Dutzend Leute geht gleichzeitig in Deckung und schluckt trocken.
Sami ist an der Tür. Draußen. Biegt rechts ab. Noch mal rechts. Wo geht er hin? An der Ecke stehen zwei Polizisten. Er geht zurück, die Whitcomb Street entlang Richtung Trafalgar Square. Ein Transporter der Polizei fährt langsam um Leicester Fields herum. Er duckt sich in ein Gässchen. Lehnt sich mit dem Rücken an eine Mauer. Es ist aussichtslos, er kann ihnen nicht entkommen. Sie werden ihn in die Ecke treiben und auf Verstärkung warten.
Sami muss von der Bildfläche verschwinden. Ganz und gar. Er hat jetzt Geld – den Packen aus dem Safe –, aber erst muss er aus dem West End herauskommen, aus London.
Auf der anderen Seite des Platzes ist eine Kirche. Da drin kann er sich verstecken. Den Rucksack in eine dunkle Ecke stellen. Ein Gebet sprechen. Das ist ein guter Plan.
Er kommt aus der Gasse und sieht sich drei Polizisten gegenüber. Einer hat eine Waffe und kniet, die Waffe in beiden Händen, als wüsste er, wie man damit umgeht.
»Keine Bewegung!«, schreit er. »Lass die Tasche fallen.«
Sami guckt hinter sich … dann nach vorn. Reckt die Faust hoch, den Daumen aufgerichtet. Leer, aber das wissen die nicht.
»Ich hab eine verdammte Bombe!«, schreit er und erkennt seine eigene Stimme nicht wieder. »Bleibt mir vom Leib. Oder ich puste hier alles weg!«
Die Bullen werfen sich zu Boden. Sami rennt an ihnen vorbei. Der mit der Waffe versucht, auf die Ellbogen gestützt im Liegen zu zielen. Sami bleibt in Bewegung, schlägt Haken, wie er es in Kriegsfilmen gesehen hat.
Eine Bombe! Er hat ihnen gesagt, er hätte eine Bombe. Was für ein Witz! Was für eine erstklassige Scheiße. Sami hat nicht nur Pech, er ist ein richtiger Pechvogel, ein Unglücksrabe; er ist der Einbeinige in einem Wettbewerb im Arschtreten. Von wegen Profi-Krimineller – Sami ist nicht mal ein Anfänger. Er knackt keine Safes. Er bedroht keine Polizisten. Er jagt keine
Weitere Kostenlose Bücher