Bis du stirbst: Thriller (German Edition)
er hat eine sehr verzerrte, abschätzige Meinung über westliche Frauen.«
Sie reden von einer Belagerung. Aus einer Belagerung kommt nie einer lebend heraus. Man denke nur an Waco und an diese Schule in Russland, wo all die Kinder gestorben sind.
Sami lässt seine Stirn auf die Unterarme fallen und schließt die Augen, hört sein Herz schlagen und riecht Schweiß aus seinen Achselhöhlen aufsteigen. Auch wenn er die Knarre verschwinden lässt und die Drogen ins Klo spült, ist er immer noch schuldig – man wird ihm vorwerfen, Beweismittel manipuliert, die Justiz behindert, einen Einbruch begangen, einen Zug in die Luft gesprengt und Geiseln genommen zu haben.
Wie viele Jahre man wohl dafür bekommt? Fünfzehn? Zwanzig. Sie nennen ihn einen Terroristen. Das wird ein Hochsicherheitsgefängnis, Parkhurst oder Belmarsh.
Zwanzig Jahre. Das sind siebentausend und ein paar Tage. Nadia wird nicht draußen auf ihn warten, wenn er rauskommt. Kate Tierney auch nicht. Sie wird längst weg sein, zweimal verheiratet mit drei Kindern und dicken Oberschenkeln.
Sie sagen, dass man die ersten fünf Jahre darüber nachdenkt auszubrechen. Nach zehn Jahren hört man auf, an Frauen zu denken, und nach fünfzehn freut man sich auf eine heiße Schokolade und darauf, wenn um zehn das Licht ausgeht.
Vielleicht werden sie sich nicht einmal die Mühe machen, ihn festzunehmen. Sie werden ihn erschießen, sobald er einen Fuß nach draußen setzt. Ihn auszählen. Punkt. Aus die Maus.
30
An dem Tag, an dem Nadia eingeschult wurde, sollte Sami sie zum Schultor bringen und sie an die Hand nehmen, wenn sie über die Straße ging. Er kam bis zum Skateboard Park, wo ein Freund von ihm einen 50-50-Grind auf einem Geländer versuchte. Sami sagte zu Nadia, sie solle auf ihn warten, weil er es auch einmal versuchen wollte.
Sie wartete eine Weile, aber dann wurde es ihr langweilig, den Skateboardern zuzusehen. Sie sah ein Mädchen, das dieselbe Schuluniform trug wie sie, und wollte ihr über die Straße folgen. Die Ampeln schalteten gerade auf Rot, als sie auf die Straße trat. Reifen quietschten. Der Wagen konnte nicht mehr rechtzeitig bremsen. Nadia kam unter die Vorderräder.
Sami sah sie auf der Straße liegen. Er fing an zu rennen; rief um Hilfe. Dann lief er weiter, war sicher, dass er sie umgebracht hatte. Sicher, dass sie tot war. Er war schuld.
Nadia war nicht tot. Der eine Vorderreifen war über ihren Uniformschuh gerollt, der so steif war, dass er nicht nachgegeben hatte. Sämtliche Bänder in ihrem linken Fuß waren gerissen, und sie bekam für zwei Monate einen Gips.
Sami ertrug seine Strafe wie ein Mann. Sein Skateboard wurde in tausend Stücke zerbrochen.
Warum fällt ihm das ausgerechnet jetzt wieder ein, fragt er sich. Er starrt das Fenster an, versucht, Nadia dazu zu zwingen, vor ihm zu erscheinen. Das versucht er schon seit drei Tagen, aber es hat nicht funktioniert.
Vor dem Restaurant ist es still geworden. Nichts scheint sich zu bewegen außer den chinesischen Laternen, die sich in der Brise wiegen. Wenn Sami seine linke Wange an die Fensterscheibe presst und zur Seite guckt, kann er die Barrikaden erkennen, die die Shaftesbury Avenue blockieren. Wenn er die andere Wange an die Scheibe presst, dann kann er die beiden Drachen vor der Exchange Bar sehen und den Obststand am Lucky House Minimarkt. Kisten mit Äpfeln, Orangen und Bananen sind ordentlich gestapelt, mit Preisen, die mit schwarzem Filzstift auf weiße Pappe geschrieben sind. Die Türen sind geschlossen. Die Fenster dunkel.
»Warum tun Sie uns das an?«, will eine Stimme hinter ihm wissen.
Sami dreht sich um. Das Mädchen im Rollstuhl hat breite Schultern und kräftige Arme. Ihr Gesicht könnte hübsch sein, wenn ihre Augen nicht so schmal und hart wären. Wut scheint sich in ihr angestaut zu haben und sie auszufüllen wie einen Behälter.
»Was?«
»Uns gefangen halten.«
Sami kann ihr das nicht erklären.
»Wann werden Sie uns freilassen?«
»Bald.«
»Ich muss nach Hause.«
»Warum?«
Die Frage kommt so unerwartet, dass sie keine Antwort parat hat.
»Ich habe zu tun. Ich habe ein Leben.«
»Wie heißt du?«, fragt Sami.
Ihre Hände verlassen die Räder und drücken sich in ihrem Schoß zusammen.
»Persephone.«
»Wie lange sitzt du schon im Rollstuhl?«
»Seit ich neun bin.«
»Was ist passiert?
»Ich hatte eine Infektion.«
Sami fallen keine weiteren Fragen ein, aber sein Schweigen macht sie wütend.
»Ist das alles?«
»Wie
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