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Bis es dunkel wird: Kriminalroman (German Edition)

Bis es dunkel wird: Kriminalroman (German Edition)

Titel: Bis es dunkel wird: Kriminalroman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kevin Brooks
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…?
    Jetzt war sie nichts.
    Ich zweifelte nicht daran, dass sie tot war, höchstwahrscheinlich durch Genickbruch, doch als ich mir wieder die Augen rieb – diesmal, um mir Tränen wegzuwischen –, wusste ich, dass ich absolute Gewissheit brauchte. Ich holte tief Luft, sammelte mich, beugte mich wieder dicht an das Gitter heran und richtete die Stiftlampe direkt auf ihr Gesicht. Der Anblick war kaum zu ertragen – ihre leeren Augen, ihr gequälter Mund, ihre starre weiße Haut. Tränen strömten über mein Gesicht, doch ich wandte den Blick nicht ab. Ich suchte weiter nach irgendeinem Lebenszeichen – einem Atemzug, einem Zucken, einem Herzschlag, irgendetwas –, aber es gab nichts, nicht die kleinste Bewegung. Ich wartete eine Minute, dann noch eine … und danach noch mal eine, nur um ganz sicher zu sein. Und dann schaltete ich mit einem Seufzen die Stiftlampe aus, trat zurück von dem Bunker, zog mein Handy heraus und wählte den Notruf.

7
    Die Realität des Betrunkenseins hat wenig zu tun mit den romantischen Vorstellungen, die man sich davon macht. Einer der vielen Unterschiede ist, dass du eben nicht schlagartig nüchtern wirst, wenn du in der realen Welt betrunken einen Schock erlebst. Wär schön, wenn’s so wäre, stimmt aber nicht. Egal wie traumatisch und verheerend ein Erlebnis ist – sei es körperlich oder seelisch –, egal wie sehr man sich wünscht, schlagartig nüchtern zu sein, es passiert einfach nicht.
    Es geht nicht, ganz simpel.
    Es ist physisch unmöglich.
    Wenn du betrunken bist, bist du betrunken.
    Und was immer passiert, du musst betrunken damit zurechtkommen.
    Und manchmal ist es in solchen Fällen am besten, so wenig wie möglich zu tun.
    Nachdem ich also mit der Frau von der Notrufzentrale gesprochen und ihr so detailliert wie möglich Auskunft gegeben hatte, zündete ich mir eine Zigarette an, wandte mich Richtung Strand und setzte mich auf einen Kiesstreifen ungefähr zwanzig Meter vom Bunker entfernt. Die Frau hatte gesagt, die Polizei sei unterwegs, ich solle vor Ort bleiben und auf keinen Fall etwas anfassen.
    Und das war okay für mich.
    Das schaffte ich.
    Ich schaffte es, einfach nur dazusitzen und zu warten.
    Es regnete jetzt heftig, eine dichte Regenwand stürzte aus dem Dunkel nieder und der Wind brüllte über die Insel, er ächzte und heulte rings um mich her, doch ich war betrunken, und zwar in der realen Welt, also kümmerten mich Regen und Wind nicht weiter …
    Ich saß nur in der Finsternis, rauchte und wartete … und versuchte die Fragen zu ignorieren, die sich mir schon jetzt unwillkürlich stellten: Wer? Wie? Warum? Wann? Ich wollte nicht über sie nachdenken. Ich wollte überhaupt nicht wie ein Ermittler über Chelsey Swalenski nachdenken, ich wollte nur einfach fühlen, was ich fühlte. Trauer, Übelkeit, Wut … Hilflosigkeit. Ich wollte Mitgefühl haben, mit ihrem Leben, ihrem Tod, ihren Eltern …
    Doch die Fragen wollten nicht weichen. Wer hatte das getan? Wer hatte Chelsey umgebracht? Und warum? Wann war es passiert? Was hatte sie überhaupt hier draußen gewollt? Und wo waren ihre Eltern? Hatte der langhaarige Biker etwas damit zu tun? Wieso hatte er mich gefragt, ob ich irgendwohin wollte? Und der kurze Lichtblitz, den ich wenig später glaubte gesehen zu haben, und das ferne Tuckern … konnte das vielleicht ein Boot gewesen sein?
    Ich zündete mit dem Stummel der Zigarette, die ich rauchte, eine neue an, dann fasste ich in meine Jacke, zog die halbe Flasche Whisky heraus und nahm einen kräftigen Schluck, dass es mich schüttelte. Wenn ich nicht nüchtern werden konnte, konnte ich genauso gut weiter betrunken bleiben, fand ich.
    Die Polizei kam nach etwa zwanzig Minuten, zwei Männer in Uniform mit einem Land Rover. Ich sah die Lichter schon aus großer Ferne – das flackernde Blaulicht, die aufgeblendeten Scheinwerfer –, und während sie langsam über den Strand auf mich zukrochen und dabei wegen des unebenen Bodens hin und her schaukelten, erhob ich mich zögernd und gingwieder hoch zum Bunker. Der Land Rover fuhr weiter oben am Strand entlang, um nicht stecken zu bleiben, und als er schließlich knirschend ungefähr zehn Meter vor dem Bunker anhielt, ging ich zu den zwei Beamten hinüber. Beide waren in voller Montur – Regenjacke, Schussweste, Warnweste, Polizeikappe, klimpernder Gürtel – und wirkten, als ob sie schon alles gesehen hätten. Der auf dem Fahrersitz war ein schwerer Mann mit breitem Brustkorb und mürrischem, feistem

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