Bis es dunkel wird: Kriminalroman (German Edition)
Schluck und schaute mich dann weiter um.
Bis das erste Glas leer war und ich mir das zweite vornahm, hatte ich jeden Winkel des Pubs abgesucht – die Bar, die Tische, den Veranstaltungsraum – und Mark Allen nirgends entdeckt. Falls er sich nicht draußen im Raucherbereich, auf dem Gang oder auf der Toilette aufhielt, war er ganz eindeutig nicht hier.
Genauso wenig wie Ian Garrow.
Aber sonst waren es so ziemlich alle.
Die Keane-Brüder lungerten an der Tür rum und kippten Budweiser, zusammen mit ein paar anderen Jugendlichen, die genauso aussahen wie sie – blass und dürr, schlechte Haut, Joggingsachen, Turnschuhe, dicke Jacken. Auch der mit dem Stofffetzen war wieder dabei, er lehnte betrunken an der Wand und nuckelte mit fast geschlossenen Augen an seinem Lappen. Lyle wirkte ebenfalls ziemlich betrunken und so, wie er zu mir herübersah – die niederträchtigen kleinen Augen voller Hass –, ging ich davon aus, dass er genügend Alkohol intus hatte, um Ärger zu machen. Als ich ihm mein Glas entgegenhob und ihn anlächelte, griff er sich erst an die Eier und zeigte mir dann den Stinkefinger.
Er ist nur ein Junge , erinnerte mich Stacy.
»Ich weiß.«
Ich wandte meine Aufmerksamkeit einer Gruppe zu, die um einen Tisch am Fenster saß. Ich kannte nicht alle, aber der mit dem Pferdeschwanz und Stevie, der Biker, der mir die Scheiße aus dem Leib getreten hatte, waren auf jeden Fall dabei, außerdem Robyn, die neben ihm saß und nur vor sich hinstierte. Ich war mir ziemlich sicher, dass einer der andern der brutal aussehende Kerl vom Fischkutter sein musste. Er hatte das ramponierte Gesicht eines ehemaligen Boxers – vernarbte Haut, wulstige Brauen, schlecht gerichtete Schlägernase –, und obwohl er bei den andern saß, schien er sich nicht allzu viel mit ihnen abzugeben. Er saß eigentlich nurda, trank sein Bier und blieb ganz für sich. Doch ab und zu sah ich ihn in meine Richtung schauen, und ich wusste, dass nicht nur er mich im Auge behielt. Selbst wenn es nicht alle so offensichtlich taten wie Lyle, war mir doch klar, dass mich auch die anderen beobachteten. Und als sich Stevie zu Robyn beugte, um ihr etwas zu sagen, und sie daraufhin langsam den Kopf hob und mit verschwommenem Blick zu mir rübersah, war unverkennbar, dass sogar die beiden über mich sprachen.
Robyn hatte sich ins Zeug gelegt für den Abend, sich zurechtgemacht. Ihre Haare fielen locker und modisch wirr, das Make-up ließ ihr Gesicht fast puppenhaft wirken – schwarze Augenlider, rote Lippen, blasse Haut – und dazu trug sie einfach ein schwarzes T-Shirt und Jeans. Doch egal, wie gut sie aussah – und sie sah wirklich gut aus –, man merkte, dass sie total von der Rolle war. Und als sie zu mir herschaute, hatte sie offenbar keine Ahnung, worum es ging.
Ich sah sie etwas zu Stevie murmeln: Wen soll ich ansehen?
Ihn , antwortete Stevie ungeduldig und nickte in meine Richtung. Den da im schwarzen Anzug, der an der Wand lehnt … der mit dem zerbeulten Gesicht.
Robyn schaute zu mir herüber und unterdrückte ein Gähnen. Was ist mit dem? , fragte sie Stevie.
Er behauptet, er kennt dich.
Er kennt mich?
Ja … verdammte Scheiße, wieso kennt der Kerl dich?
Wer?
Mann, Scheiße, das hab ich dir doch gerade gesagt , der Kerl in dem Anzug, verdammt … ach, vergiss es.
Während sich Stevie kopfschüttelnd abwandte, um mit dem Pferdeschwanztypen zu reden, und Robyn wieder leer vor sich hinstarrte, versuchte ich mir klarzumachen, was ich für sie empfand. Sie war meine Halbschwester, wir gehörten zur selben Familie, und ob es mir nun gefiel oder nicht, es weckte einen irrationalen Beschützerinstinkt in mir, einBedürfnis, mich um sie zu kümmern. Andererseits … na ja, ich kannte sie ja gar nicht. Und ihre Mutter hatte offenbar beschlossen, ihr nichts von mir zu erzählen, weshalb auch Robyn mich nicht kannte … sie wusste nicht mal, wer ich war. Wieso sollte ich also etwas für sie empfinden? Welchen Sinn sollte das haben? War es nur ein Überbleibsel von animalischem Eigennutz, ein genetischer Rest von etwas, das sich vor hunderttausend Jahren in die Chromosomen meiner Vorfahren geschlichen hatte … oder einfach nur wieder so ein nutzloses Scheißgefühl?
Ich schaute zu Robyn hinüber, die total fertig und hoffnungslos dasaß.
Und sah mich in ihr gespiegelt.
Und ich merkte, wie viel Glück wir beide hatten, an einem Ort und in einer Zeit zu leben, in der evolutionäre Parameter nichts zählten, in der sich keiner
Weitere Kostenlose Bücher