Bis es dunkel wird: Kriminalroman (German Edition)
Zigarette an, ging hinüber zu den Pissoirs und leerte meine Blase.
Als ich in die Bar zurückkam, waren alle gegangen. Nicht nur Garrow und die andern, einfach alle. Der ganze Pub war leer. Es gab keine Musik, keine Stimmen, gar nichts … nur einen verlassenen, rauchverhangenen Raum und lastendeStille. Ich stand einen Augenblick da, schaute mich um, und für eine kurze Zeit wusste ich nicht mehr, wo ich gerade herkam oder wie lange ich weg gewesen war … und ich fing an zu glauben, ich müsse irgendwo eingeschlafen sein, oder vielleicht war ich ohnmächtig geworden oder –
»Alles okay, Kumpel?«
Ich blickte mich nach der Stimme um und sah, wie der Barkeeper aus einer Tür kam, auf der Personal stand, und sich die Hände an einem Handtuch abwischte.
»Wir haben geschlossen«, sagte er.
»Seit wann?«
»Seit fünf Minuten.«
»Das ging aber schnell.«
Er zuckte die Schultern und wischte sich wieder die Hände ab.
Ich fragte: »Überprüfen Sie nicht die Toiletten, bevor Sie zumachen?«
»Doch, wollte ich gerade tun.«
Ich sah ihn an und für den Bruchteil einer Sekunde zerfloss sein Gesicht. Ich blinzelte und das Zerfließen hörte auf. »Wie spät ist es?«, fragte ich.
Er grinste. »Zeit, nach Hause zu gehen.«
Es heißt, dass im Tod dein ganzes Leben noch mal vor deinen Augen aufblitzt. Auch wenn ich nicht weiß, ob das wirklich stimmt, glaube ich zumindest, dass man bei der Geburt den eigenen Tod vor Augen sieht. Aus diesem Grund schreien Babys – und wegen der ungeheuerlichen Losgelöstheit. Wer hat einen gefragt? Das würde ich gern wissen. Bevor man geboren wurde …
Wer hat einen da gefragt, ob man ein Leben will, verdammt? Bevor man geboren wurde … Schwer, sich das vorzustellen, was? Kein Raum, keine Zeit, kein Dasein … das ist kaum zu akzeptieren. Kein Garnichts. Stell dir das einmal vor … die Leere und die absolute Stille, die Kälte undFinsternis und die Ahnungslosigkeit … mal dir das aus … und dann lass es weg. Was bleibt danach noch? Weniger als nichts. Und genau das warst du vor der Geburt. Zeitlos, raumlos, alleslos. Nichts zu nichts zu nichts. Und ich stelle mir vor, dass du damit vielleicht sogar zufrieden warst. Aber plötzlich ist all das weg. Es ist dir genommen. Nicht einmal der Tod kann es dir zurückgeben, denn der Makel des Lebens ist nicht mehr zu tilgen.
Wer hat dich gefragt?
Niemand.
Und ebendas muss so eine Art verfluchter Freiheit sein, glaubst du nicht auch?
… glaubst du nicht auch …?
… glaubst du nicht auch …?
… glaubst du nicht auch …?
Keine Ahnung, ob die Stimmen, die ich hörte, in meinem Kopf waren oder im Dunst der eisigen Nacht, und als ich durch die leeren Straßen Richtung Hotel ging, war mir klar, dass ich dagegen ankämpfte, nichts mehr sicher zu wissen. Sprach ich laut vor mich hin? Hörte ich Stimmen? Führte ich Selbstgespräche? War ich in meinem Kopf oder irgendwo außerhalb? Ich wusste es nicht … aber zumindest wusste ich, dass ich es nicht wusste.
Oder jedenfalls glaubte ich es zu wissen.
Und das war das Problem …
Das ist immer das Problem.
Du bist, was immer du bist. Du fühlst, was immer du fühlst, nimmst wahr, was immer du wahrnimmst. Dein Gemütszustand ist dein Gemütszustand. Etwas anderes hast du nicht. Du kannst nicht einen Schritt zur Seite treten und dich als das sehen, was du wirklich bist, es ist unmöglich, denn das, was du wirklich bist, lässt es nicht zu. Ein Betrunkener kann alles nur durch seinen betrunkenen Blick sehen, ein Verrückter kann nur verrückte Gedanken denken … und einvon Drogen benebeltes Hirn hat eine von Drogen benebelte Selbstwahrnehmung. Das heißt, auch wenn irgendein ferner Teil von mir wusste, dass ich unter Drogen stand und Hirn und Körper nicht unter Kontrolle hatte, konnte ich trotzdem nicht logisch damit umgehen, eben weil ich mein Hirn nicht unter Kontrolle hatte.
Die einzige Möglichkeit war weiterzugehen.
Ich wollte stehen bleiben. Ich wollte mich hinlegen, die Augen schließen und warten, dass das Ganze aufhörte – dieser endlose Albtraum von kreisenden Lichtern und wogenden Straßen, schimmernden Gebäuden und kippenden Mauern, das erschreckende Dröhnen des Bluts in meinen Adern, das monsterhafte Stöhnen des Winds – ich wollte, dass das alles aufhörte. Doch ich wusste, es würde nicht aufhören, es würde weitergehen. Und als ich krachende Schritte hörte, die auf mich zupolterten, und dazu eine widerhallende Woge Tausender lachender Stimmen, und als ich
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