Bis ich bei dir bin
ich höre keine Autos und nicht mal einen Hund bellen. Ohne aufzusehen, weiß ich es, als ich vor Vivs Elternhaus stehe. In unserem ersten Jahr auf der Highschool ließ die Stadt hier den Bürgersteig neu machen, und wir haben uns mitten in der Nacht hinausgestohlen und unsere Initialen in den noch feuchten Zement geritzt: V.H. + C.P. Die Buchstaben sind jetzt genau unter meinen Füßen. Von dieser Stelle aus sehe ich Vivs Fenster, jedoch nicht die Haustür, die hinter einer großen Trauerweide verborgen ist. Wenn Viv mir signalisierte, dass die Luft rein war, bin ich heimlich zu ihr hineingeklettert oder habe ihr hinausgeholfen. Ihre Eltern mochten mich zwar ganz gern, glaube ich, aber so ging es unkomplizierter und schneller. Kein Small Talk oder Ermahnungen, zur festgesetzten Zeit zu Hause zu sein, nur wir beide, allein.
Ich hebe den Kopf.
Es brennt Licht in ihrem Zimmer.
Mir bleibt das Herz stehen.
Der Gedanke macht mich fertig, dass da jemand in ihren Sachen herumstöbert. Räumen sie etwa das Zimmer aus? Machen ein Büro daraus? Ein Gästezimmer? Ich stelle mir vor, wie Vivs Allerheiligstes entweiht wird, wie ihre Lieblingszitate und -fotos von den Wänden genommen werden. Mir ist schlecht. Ich frage mich, ob ihr Parfum noch an ihren Kleidern hängt. Ehe ich einen Entschluss fassen kann, habe ich auch schon halb den Rasen überquert.
Leise krieche ich in die Wachholderbüsche, damit mich von drinnen niemand entdeckt. Ich habe Mr und Mrs Hayward seit der Beerdigung nicht mehr gesehen und gehofft, ihnen nie mehr begegnen zu müssen.
Jemand ist dort drinnen, ich erkenne eine Gestalt auf ihrem Bett.
Ich schleiche mich zur Fensterecke und spähe hinein.
Mir stockt der Atem. Ein Mädchen sitzt mit dem Rücken zu mir auf Vivs Bett. Sie ist dünn und hat kurz geschnittene schwarze Locken. Offenbar telefoniert sie, dabei malt sie mit dem Finger Kreise auf die Steppdecke. Hin und wieder nickt sie, aber falls sie etwas sagt, ist es zu leise, als dass ich es durch die Scheibe hören könnte. Sie trägt Rot und Weiß, und ihre langen Beine sind unter einem kurzen Faltenrock zum Schneidersitz gekreuzt.
Nachdem sie noch ein paar Mal schnell genickt hat, lässt sie das Handy auf die Decke fallen und wischt sich das Gesicht ab. Kurz darauf schwingt sie ihre Beine über die Bettkante und beginnt, sich auszuziehen. Ihr Outfit ist eine Red-Rams-Cheerleader-Uniform. Sie legt sie ab, fügt Oberteil und Rock dem Klamottenberg auf dem einzigen Stuhl im Zimmer hinzu und tauscht sie gegen einen zerknitterten rosa Pyjama. Seitlich unten am Rücken hat sie ein kleines Muttermal. Es sieht aus wie ein geschliffener Diamant – das weiß ich, ohne es näher in Augenschein nehmen zu müssen, denn ich habe es oft genug geküsst wie die heiligste Stelle auf Erden. Als sie sich umdreht, stürzt meine Welt von Neuem ein. Die schwarzen Locken, die ihr früher über den Rücken fielen, ringeln sich jetzt auf Kinnlänge und werden von einem roten Band zurückgehalten. Ihr Gesicht ist schmaler und ein wenig fleckig, die dunklen Augen sind gerötet. Doch die schön geschwungenen Augenbrauen, die ich immer mit dem Daumen nachgezeichnet habe, sind unverändert.
Ich bekomme keine Luft. Benommen sehe ich zu, wie sie in den Pyjama schlüpft, und es gibt nicht den geringsten Zweifel mehr. Drei Jahre habe ich damit zugebracht, mir jedes Detail dieses Körpers, dieses Gesichts einzuprägen, und die vergangenen zwei Monate damit, mir wie wahnsinnig zu wünschen, das alles nur noch ein einziges Mal sehen zu dürfen.
Ich schlage gegen die Scheibe und brülle ihren Namen.
»Viv!«
FÜNFZEHN
I ch werfe mich gegen das Fenster, hämmere und schreie. Weiß nicht mal, was ich da rufe. Ich traue meinen Augen nicht – ich muss zu ihr, muss sie berühren, sie in die Arme nehmen.
Sie macht einen erschrockenen Satz vom Bett weg und klammert sich dabei an eine Wolldecke. Ihr Blick schnellt durchs Zimmer, und als er sich auf die vibrierende Fensterscheibe richtet, grinse ich.
»Viv! Ich bin es, Viv! Ich !« Ich will das Fenster aufdrücken, doch es ist verriegelt, also hüpfe ich nur auf und ab wie ein Irrer.
Ihre dunklen Augen begegnen meinen Augen. Ihr Gesicht wird weiß wie ein Laken.
Sie zieht die Decke an ihre Brust und weicht zur Wand zurück. Ihre Lippen bewegen sich kaum merklich, aber ich glaube, meinen Namen ablesen zu können, bevor ihr Mund aufhört zu zucken und zu einem Schrei aufgerissen wird.
Das Geräusch dringt durch das Glas,
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