Bis ich bei dir bin
durchdringt meine Brust, sodass ich das Gefühl habe, in die Dunkelheit geschleudert zu werden. Sekunden später kommt ihr Vater zur Tür hereingestürmt und sieht genauso panisch aus wie Viv, die zitternd auf dem Boden zusammengebrochen ist. Mrs Hayward folgt ihrem Mann auf dem Fuß und hockt sich neben Viv, die ihre Knie umfasst hält und weinend den Kopf schüttelt.
Mein Hirn fühlt sich wie Brei an, meine Glieder sind bleischwer. Ich starre auf Vivs tintenschwarze Locken, während ihre Mom ihr beruhigend den Rücken reibt. Viv hebt den Kopf und späht zaghaft über ihre Knie hinweg zum Fenster. Ich weiß, dass sie mich jetzt dort, wo ich stehe, nicht sehen kann, und beobachte, wie Enttäuschung und Erleichterung in ihr miteinander ringen. Mr Haywards Stimme dröhnt durchs Zimmer, dann eilt er zielstrebig hinaus. Die Außenbeleuchtung geht an und erhellt den Rasen. Adrenalin schießt durch meine Adern. Alles, was ich will, ist hineinlaufen, Viv in meine Arme ziehen und ihr sagen, dass sie jetzt in Sicherheit ist und uns nichts mehr trennen kann. Doch irgendetwas in ihrem furchtsamen Gesicht hält mich im Dunkeln zurück. Die Haustür knallt zu, woraufhin jede Faser meines Körpers mich zur Flucht drängt.
Hat sie mich denn nicht erkannt? Warum hat sie so geschrien?
»Wer ist da?«, brüllt Mr Hayward in meine Richtung.
Meine Füße setzen sich über meinen Kopf hinweg, und ich entkomme durch den Nachbarsgarten. Keuchend schnappe ich nach Luft, und meine Augen brennen beim Laufen, doch obwohl mein Herz heftig schlägt, ist in meiner Brust alles taub.
Als ich Ninas Haus erreiche, sind meine Augen geschwollen, und ich kriege keine Luft durch die Nase. Ich klappe auf der Veranda zusammen und lege meinen Kopf auf die Dielenbretter. Undeutlich nehme ich den zombieartigen Laut wahr, der aus meinem Mund entweicht.
Viv lebt .
Hunderttausend Mal habe ich davon geträumt, aber so war es nie.
Ein Lichtstrahl fällt auf mich, jemand japst erschrocken auf.
»Nina!«, ruft Owen.
Schritte hasten durchs Haus, werden langsamer und kommen zögerlich bei meinem Kopf zum Halten. Die Tür geht zu, sodass wir in Schwärze getaucht werden. Ich hebe mühsam mein Gesicht von der Veranda und wische mir die Nase mit dem Ärmel ab.
»Warum …«, stoße ich krächzend hervor und muss noch mal ansetzen. »Warum hast du es mir nicht gesagt?«
Mit meinen Triefaugen kann ich sie in dem blassen Mondschein kaum ausmachen. Sie steht vollkommen still, den geraden Rücken flach an die Tür gedrückt.
»Dir was gesagt?«
»Dass Viv lebt!«
Sie erbleicht. In der Stille wird mein Kopf wieder klarer, mein Herzschlag regelmäßiger. Sie hat es mir verheimlicht, und jetzt fällt ihr nichts dazu ein?
»Du hast ihre Gedenkstätte gesehen, du wusstest es doch!«
»Ich habe nicht …«
»Hör auf, mich anzulügen, Nina!«
Sie sieht mich an, wie ich da zusammengekauert auf dem Boden liege, und ich schwöre, dass sie mich mit demselben mitleidigen Blick mustert wie in dem Diner.
»Sie ist hier am Leben …« Ihre Stimme versagt. »Weil du es bist, der gestorben ist!«
In der Straße wird es auf einmal so still, als wären wir weit und breit die einzigen Menschen hier. Ich konzentriere mich aufs Atmen, aber die Luft ist irgendwie zu dünn, ich kann nicht genug davon einsaugen. Ächzend lehne ich mich an die Hauswand und schließe die Augen.
Viv lebt – und ich bin gestorben?
»Wie?«, flüstere ich.
Sie lässt sich Zeit mit der Antwort. »Unfall mit Fahrerflucht. Vor zwei Monaten, am Sonntag, dem fünften.«
»Sonntag, der fünfte«, murmele ich. »Fahrerflucht?«
»An der Ecke bei der Schule«, erwidert sie.
Ich versuche, mir das auszumalen – den Fall des roten Königs –, aber mein Verstand kann nur einen brutalen Tod an dieser Stelle und an diesem Tag verarbeiten. Ein unschönes Gefühl beschleicht mich und breitet sich in meinen Eingeweiden aus wie … schlechtes Gewissen? Noch vor einer Stunde war ich entschlossen, meine andere Version zu hassen. Aber hat er dieses Schicksal mehr verdient als ich?
»Hat …« Nina zögert. »Hat Viv dich heute Abend gesehen?«
Ich mache die Augen auf. »Was?«
»Ich muss es wissen – hat sie dein Gesicht gesehen?«
Ich denke an den Aufruhr in Vivs Zimmer. Sie hat mich garantiert gesehen, und trotz ihres Schocks bin ich sicher, dass sie in den Momenten danach, als sie wieder zum Fenster blickte, darauf gehofft hat, mich noch einmal zu sehen.
»Was geht es dich an, wenn ja?«, frage
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