Bis ich bei dir bin
schätze, ich bin noch eine Weile in der Gegend«, antworte ich.
Dann gehe ich durch die Genesee Street und versuche, das Durcheinander in meinem Kopf zu ordnen. Ninas Eltern sind hier auf dieser Seite tot, aber da sie nicht auf meine Schule geht und drüben sehr viel glücklicher wirkt, vermute ich stark, dass sie dort noch leben. Die Beinverletzung habe ich an beiden Orten davongetragen, nur dass ich hier weiter Football gespielt habe. Allerdings bin ich hier tot, und Viv ist drüben tot. Mir schwirrt der Kopf. Wer – oder was – entscheidet, was passiert? Wäre es nicht fairer gewesen, Viv und mich wenigstens am selben Ort gemeinsam sterben zu lassen? Wenn ich bei dem Unfall mit Viv umgekommen wäre, er aber nicht, dann hätte Nina nicht ihren besten Freund verloren und wäre jetzt wahrscheinlich glücklicher. Mein anderes Ich hätte weiterhin alles richtig gemacht, und seine Viv …
Abrupt bleibe ich mitten auf der Straße stehen.
Ich bin so ein Idiot. Vor meinem inneren Auge sehe ich sie abgemagert auf dem Bett kauern und sich das tränenfleckige Gesicht wischen. Kein Wunder, dass sie geschrien hat, als sie mich sah – Viv hält mich für tot.
Ein dumpfer Schmerz strahlt in meiner Brust aus wie von einer wieder aufgeplatzten Wunde. Der Gedanke, dass sie hier und jetzt genauso leidet wie ich, überwältigt mich. Es interessiert mich nicht mehr, wer lebt und wer gestorben ist. Viv lebt, aber sie macht Furchtbares durch, und zwar meinetwegen.
Ich gehe schneller. Seit Monaten rede ich mir ein, dass es ihr gut ginge, dass sie schon damit fertiggeworden wäre, wenn ich an ihrer Stelle gestorben wäre. Doch ihre offensichtliche Verzweiflung ist etwas, das ich nur allzu gut kenne. Ihre gebeugte, ausgemergelte Gestalt erinnert zu sehr an das Bild, das mir seit zwei Monaten im Spiegel entgegenblickt. Ich muss unbedingt auf sie aufpassen und dafür sorgen, dass sie sich wieder erholt. Mein Schritt geht in ein Traben über, noch bevor ich am Fuß des Hügels bin. Wenn jemand weiß, wie Viv sich im Moment fühlt, dann ich.
Ich fange an zu rennen.
SECHZEHN
B ei Viv brennt noch Licht. Ich zwinge mich, auf dem Gehweg bei unseren Initialen zu warten, bis mein Bein nicht mehr pocht und ich sicher bin, dass die Luft rein ist. Die Außenbeleuchtung ist noch an, taucht aber genauso viele Ecken des Vorgartens in Schatten wie in Helligkeit.
Am Fenster bewegt sich etwas.
Ich verhalte mich mucksmäuschenstill.
Vivs schlanke Silhouette kommt in Sicht. Sie hat die Arme schützend um sich gelegt und verharrt vor der Scheibe, schwankt leicht vor und zurück, als suchte sie nach etwas im Garten.
Das ist meine Chance.
Ich sprinte über den Rasen bis zu der Weide, wo ich kurz innehalte. Zwischen hier und dem Fenster liegt ein hell erleuchtetes Stück, doch ich baue darauf, dass niemand in genau dieser halben Sekunde in die Richtung sieht.
Das Herz schlägt mir bis zum Hals, als ich wie vorhin von der Fensterecke aus hineinspähe. Viv geht in ihrem Zimmer auf und ab. Sie hat noch den rosa Pyjama an, aber zusätzlich ein übergroßes Sweatshirt mit dem Aufdruck der Fowler Rams darübergezogen. So eines hatte ich auch mal. Irgendwann bleibt sie mit dem Rücken zu mir stehen, und ich erkenne nicht, was sie macht, bis sie sich ein wenig zur Seite dreht und ich sehe, dass sie an den Fingernägeln kaut. Das tut sie immer, wenn ihr etwas zu schaffen macht. Ihr Zimmer ist dem, das ich kenne, gespenstisch ähnlich, aber doch irgendwie anders. Nicht chaotisch genug, um als Saustall zu gelten, da man immer noch einen großen Teil des Fußbodens sieht, aber Schreibtisch und Kommode sind schon ganz schön zugeräumt, sodass von ordentlich auch keine Rede sein kann. Auch hier hat sie lauter Zitate und Fotos an der Wand, allerdings andere. Es gibt mehr Glamour, mehr Leute, weniger Bilder von Gegenständen und Orten. Über dem Bett hängt eine Aufnahme von uns auf dem Valentinstagsball.
Sie dreht sich um und kommt aufs Fenster zu.
Unsere Blicke treffen sich.
Ich merke, wie sie erstarrt, doch sie schluckt nur und fängt nicht wieder an zu schreien.
Irgendwie brauche ich ein Erkennungszeichen, damit sie weiß, dass ich es tatsächlich bin, dass sie keine Angst zu haben braucht, und dann fällt es mir ein. Ich klopfe leise an die Scheibe, viermal, zweimal, dreimal.
Sie entspannt sich ein wenig, bleibt aber, wo sie ist. Ich rüttele am Fenster, und diesmal lässt es sich öffnen. Ihre großen, schönen, dunklen Augen werden noch ein bisschen
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