Bis ich bei dir bin
ihrem Kleiderschrank versteckt, aber als ich aus dem Fenster spähe, ist sie schon in der Nacht verschwunden.
VIERZEHN
D r. Summers hat heute unaufhörlich über Tiefenatmung geredet, sodass ich mich richtig zwingen musste, sitzen zu bleiben und den Teppich anzustarren. Als ich nach Hause komme, finde ich wieder den Pizza-Zettel in der Obstschale. Ich stecke das Geld ein und halte mich nicht damit auf zu antworten. Dann schalte ich den Fernseher an und zappe herum, bis ich auf eine Reportage über Motocross stoße. Es geht doch nichts über einen Freitagabend allein, an dem man gemütlich zusieht, wie andere auf zwei Rädern durch den Schlamm dreschen.
Allerdings ist das gar nicht das Thema. Da ist so ein Typ, der mit seiner Maschine auf dem Hinterrad herumjumpt, das aber in der Stadt, wo er auf Laderampen springt und über stehende Autos hinwegbrettert. Er vollführt so irrsinnige Kunststücke, bei denen er das Motorrad von einer Rampe jagt, sich in der Luft dreht und dann tadellos auf dem mit Müll übersäten Straßenpflaster landet. Zum Schluss zeigen sie, wie er sein Bike in einen Lastenaufzug schiebt und hinaus auf das Flachdach eines alten Backsteingebäudes saust. Er springt auf die Dachkante und macht sich daran, einmal ganz herumzufahren. Die Kamera zoomt auf das dreckige Pflaster acht Stockwerke darunter, und als sie wieder nach oben schwenkt, hat die Wartungscrew das Vorderrad seines Bikes entfernt. Mir wird schon beim Zusehen übel. Eine falsche Bewegung nach links, und der Junge stürzt auf diesem kostspieligen Blechgeschoss in den Tod. Doch er vollendet die Runde auf dem Hinterrad, wackelt nur ganz leicht an den Ecken und springt zu tosendem Applaus aus dem Sattel. Meine Handflächen sind schweißnass.
Ich sollte wohl darüber staunen, was der Schwachkopf dort geleistet hat, aber ich kann nur daran denken, was alles hätte passieren können. Was, wenn er mit seiner Hose wo hängen geblieben und vom Motorrad gefallen wäre? Wenn der Wind sich gedreht oder er nur einmal unglücklich gezuckt hätte? Was wäre gewesen, wenn ich anders gehandelt hätte? Wenn ich das Feuerzeug nicht hätte fallen lassen – oder überhaupt nie mit dem Rauchen angefangen hätte? Wäre alles anders gekommen, wenn ich Nina und ihrem Bruder begegnet wäre? Oder wenn Viv mit Logan zusammengeblieben wäre? Was wäre gewesen, wenn ich nicht mit dem Football aufgehört hätte und sie Cheerleader geblieben wäre? Was, wenn wir uns nie kennengelernt hätten? Wäre sie noch hier, glücklich und lebendig?
Ich wünschte, ich hätte Ninas blödes Jahrbuch nie aufgeschlagen.
Ich schalte den Fernseher aus und gehe in mein Zimmer.
Wer weiß, vielleicht ist das Leben des anderen Cam gar nicht so toll, wie es den Anschein hat … Der Typ muss doch irgendeine Schwäche haben. Perfektes Leben, perfektes Team, perfekte Freundin – mein Atem stockt, Tränen schießen mir in die Augen, als mir die zerfledderten Überbleibsel der Gedenkstätte auf seiner Seite wieder einfallen.
Er hat alles anders gemacht und sie trotzdem verloren.
Aber er hat sie offenbar nicht zu würdigen gewusst. Nicht so wie ich.
Ich mache das Licht an und knie mich hin, um unters Bett zu schauen, wo sich diverse Gegenstände wie Treibholz angesammelt haben. Da sind meine alten Kopfhörer, um eine übel aussehende Socke gewickelt. Ich ziehe das ganze Knäuel vorsichtig an dem Kabel heraus und bringe – zusammen mit meinem Schülerausweis vom ersten Highschool-Jahr, einem Essstäbchen, einem CD-Rohling und jeder Menge Staub – auch das Jahrbuch in rotem Leder wieder zum Vorschein. Niesend werfe ich mich aufs Bett und öffne den Buchdeckel.
Auf der ersten Seite ist ein Foto von der Fowler High in ihrer ganzen architektonischen Pracht der 1960er Jahre. Die Adresse steht darunter, während der Rest der Seite frei ist. Ich will gerade umblättern, als mir etwas ins Auge fällt. Auf der Innenklappe, ganz unten in die Ecke gequetscht, steht etwas Handgeschriebenes.
Als ich es mir genauer ansehe, erkenne ich meine eigene Schrift wieder!
Der Typ hat also nicht nur mein Gesicht, sondern auch meine Handschrift. Toll.
N.,
du hast mir das Leben gerettet.
C.
Ich lese die Botschaft noch einmal. Nina hat mich gerettet? Vor was? Ich kann es noch so oft lesen, es ergibt keinen Sinn. Okay, mein Bein ist beim ersten Saisonspiel zertrümmert worden, aber ich war nie wirklich in Lebensgefahr. Das einzige Mal, dass ich nahe dran war …
Schluckend blättere ich durch die Seiten,
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