Bis ich bei dir bin
finde aber keine weitere Notiz mehr. Die Doppelseite mit dem Valentinstagsball überspringe ich, weil ich es nicht ertragen könnte, Viv noch einmal in diesem Kleid zu sehen. Hinten gibt es ein Namensregister mit Angabe der Seiten, auf denen die betreffende Person abgebildet ist. Ich überfliege die Namen, sehe, dass neben Pike und Hayward jeweils eine ganze Reihe von Zahlen steht, und stoße schließlich auf Larson, Nina, Seite 32 .
Die Seiten kleben bei den Klassenfotos zusammen, aber ich finde sie, zweite Reihe von oben, sie sieht in die Kamera, als hätte der Fotograf ihr gerade »Lächeln!« zugerufen und bringt einfach keines zustande. Wenigstens etwas Vertrautes in diesem Buch. Trotz ihres Gesichtsausdrucks ist es eigentlich ein hübsches Foto. Ihre Haare sehen anders aus in Schwarz-Weiß, etwas heller. Ihr Mund ist ernst, aber nicht verkniffen. Ich ertappe mich bei dem Wunsch, sie besser kennenzulernen oder zumindest zu erfahren, wie wir uns angefreundet haben.
Ich klappe das Buch zu und presse meine Handballen gegen die Augen, bis ein Wirbel aus Farben hinter meinen Lidern tanzt.
Dann ziehe ich mich an.
Ich habe nie gesagt, dass ich nicht wieder durch das grüne Leuchten gehen würde. Nun stehe ich halb verborgen hinter dem Schrein und nehme all meinen Mut zusammen, um die Hand in die Nachtluft auszustrecken. Ich blicke flüchtig zu dem vernagelten Kunstsaalfenster hinauf, dessen Scheibe eindeutig noch nicht ersetzt worden ist, und beiße mir auf die Lippen. Nina hat recht, wahrscheinlich sollten wir nicht mit diesem Phänomen herumspielen, was immer es auch ist. Aber ich muss wissen, was diese Widmung bedeutet. Ich selbst hätte sie nie geschrieben, warum dann er? Was ist da passiert?
Durch ein seltsames überirdisches Licht zu gehen ist verdammt viel leichter, wenn man weiß, was einen auf der anderen Seite erwartet. Von dem elektrischen Kribbeln unter der Haut wird mir diesmal nur ganz leicht übel, allerdings muss ich mich ein wenig ducken, um durch das Lichtfeld zu passen, und ich kann mich nicht erinnern, dass das zuvor so war.
Auf der anderen Seite hocke ich mich neben das Gebüsch und warte, dass mein Magen sich beruhigt. Ninas Jahrbuch klemmt unter meinem linken Arm. Dann drehe ich mich um, um mich zu orientieren und davon zu überzeugen, dass ich auch wirklich dort bin, wo ich zu sein glaube. Das Fenster des Kunstsaals ist wundersamerweise wieder ganz, und von Vivs Schrein sind nur noch ein paar Spuren vorhanden. Ich streiche über das schmutzige weiße Band um den Mast, woraufhin es als schlaffer Ring zu Boden fällt. Ein Teil eines Kerzenstumpfs klebt noch auf dem Gehweg, Papierschnipsel hängen am Holz. Man sieht noch, dass hier mal eine Gedenkstätte war, könnte jedoch nicht mehr sagen, für wen.
Wenn er jetzt hier auftauchen würde, würde ich ihn windelweich prügeln. Viv ist an dieser Stelle gestorben, und er kann noch nicht mal ihr Andenken ehren, indem er ihren Schrein instand hält? Ich schäme mich vor mir selbst, weil ich ihn um seinen Erfolg beneidet habe. Er hat eine schwere Verletzung überstanden, die ihn beinahe zum Krüppel gemacht hätte, hat seinen Ruhm und seine Footballkarriere gerettet – aber was zählt das alles, wenn er das Wertvollste, was er hatte, nicht zu schätzen wusste?
Das Blut rauscht in meinen Ohren, und ich sehne mich verzweifelt danach, Viv an mich zu drücken, damit sie diesen unaufhörlichen Schmerz spüren kann, der durch meinen Körper pulsiert, seit ich all das Blut und das zerbrochene Glas gesehen habe. Ich will sie zurückhaben. Ich lebe mit der Leere ihrer Abwesenheit. Er dagegen vermisst sie noch nicht einmal!
Ich nehme das Jahrbuch fest in die Hand und marschiere im Schnellschritt auf Ninas Haus zu. Wenn er ihr bester Freund ist, will ich wissen, warum. Ich will wissen, warum sie es für nötig hielt, diesem Arschloch das Leben zu retten.
Ich bin halb durch die Euclid Street, als ich an der Ecke zur Belleview stehen bleibe. Vivs Straße. Ich sehe ihr Haus in Gedanken vor mir, lang gestreckt und weiß, das vorletzte in der Reihe. Vor ihrem Fenster standen Wachholderbüsche. Meine Füße steuern wie von selbst darauf zu, ich könnte mit geschlossenen Augen dorthin finden. Ich möchte nur kurz einen Blick darauf werfen, möchte in der Nähe von etwas sein, das beweist, dass sie hier war.
Die Straße liegt überwiegend im Dunkeln, ich habe keine Ahnung, wie spät es ist. Hier und dort flimmert ein Fernseher oder brennt ein Verandalicht, aber
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