Bis ich bei dir bin
mit den Fersen in den Boden und lässt sich dann weinend mitschleifen. Ich wünschte, sie würde einfach loslassen, denn wenn ich auch noch so oft davon geträumt habe, sie an meinem Arm zu halten – so war es nie. Auf der anderen Straßenseite gehen ein paar Lichter an. Es beginnt zu schneien, als ich den Bürgersteig erreiche.
»Es tut mir so leid«, heult sie.
Tränen brennen in meinen Augenwinkeln. Ich schüttele sie ab und höre, wie sie auf dem Weg zusammenbricht. Ich kann sie nicht ansehen, ich kann nichts sehen.
Ich renne los.
ZWEIUNDDREISSIG
I ch laufe auf die Schule zu, das glaube ich zumindest. Die Straßen und Häuser kommen mir richtig vor, aber jedes Mal, wenn ich zu genau hinsehe, verschwimmt alles vor meinen Augen. Ich laufe trotzdem weiter. Dünne Flocken treiben an meinem Gesicht vorbei. Meine Jacke habe ich bei Viv liegen gelassen, doch ich werde auf keinen Fall umkehren, um sie zu holen. Ich ziehe die Ärmel über die Finger herunter und lausche dem traurigen, trägen Rhythmus meiner Schuhe auf dem Pflaster.
Nina hatte recht.
Die Erkenntnis schneidet klar und deutlich durch mein stumpfes Traben hindurch, ohne dass ich jetzt noch etwas tun könnte. Ich muss nach Hause, ich kann nicht in einer Welt bleiben, in der ich tot bin.
Ich komme zu einer vertrauten Ecke, aber es ist nicht die, nach der ich suche, noch nicht. Als ich zu dem Straßenschild hinaufsehe, um festzustellen, wie weit es noch ist, gelingt es mir, ein Wort zu entziffern: Genesee.
Eine Schneeflocke fliegt mir ins Auge. Fluchend kneife ich es zu und schmelze die Eiskristalle mit Tränen. Als ich wieder blinzele, liegt der Weg vor mir klarer da als alles, was ich bisher in dieser Nacht gesehen habe.
Blaues Fernsehlicht flackert in Ninas Fenster und wärmt mich innerlich besser als jedes lodernde Feuer. Ich habe keine Ahnung, wie spät es ist, aber da ist noch jemand auf.
Die Türglocke läutet vernehmbar, woraufhin das leise Gemurmel, das von oben kommt, beinahe sofort verstummt. Nur der blaue Schimmer im Fenster bleibt. Ich kann mich nicht überwinden, in den kleinen Spion zu blicken, und als der Riegel zurückgeschoben wird und der Griff sich dreht, halte ich den Atem an.
Sie sagt zunächst nichts. Es ist wie bei unserer ersten Begegnung, als wir uns durch das grüne Licht hindurch taxierten. Nur dass sie mich diesmal nicht ansieht, als wäre ich tot. Jetzt erst wird mir klar, dass sie dort eine Art Totenwache gehalten haben muss, genau wie ich.
»Du hattest recht«, sage ich. »Es war Viv.«
Sie hält sich die Hand vor den Mund, und ihr Blick gleitet über mich hinweg, während ich erschöpft am Türrahmen lehne, halb erfroren ohne meine Jacke. Wie mein Gesicht aussieht, will ich gar nicht erst wissen.
»Cam, es tut mir so leid.« Sie macht einen Schritt auf mich zu, um mich zu umarmen, doch ich weiche zurück, und sie hält inne. »Bist du okay?«
Ich nicke mit zusammengekniffenem Mund, kann ihr aber nicht in die Augen sehen.
Sie hält mir die Tür auf. »Komm rein, es schneit doch.«
Ich trete ein und lasse es zu, dass sie sie hinter mir schließt.
»Kann ich dir etwas holen, einen Tee, eine Decke?«
Ich schüttele den Kopf. »Ich muss gehen.«
»Ja.« Sie nickt langsam. »Das musst du.«
Endlich treffen sich unsere Blicke, und ich mache mich auf ihr Urteil gefasst. Doch was ich in ihrem Gesicht lese, ist nicht das, was ich erwartet habe. Kein auftrumpfendes »Hab ich’s dir nicht gesagt«, keine Ungeduld oder Anmaßung. Viv hätte diese Situation weidlich zu ihrem Vorteil genutzt, während in Ninas hellbraunen Augen nur Mitgefühl steht, sonst nichts.
»Ich fand, dass ich mich wenigstens bei dir entschuldigen sollte.«
»Nicht … Ich meine, das brauchst du nicht.«
Ich bin ratlos, was ich als Nächstes sagen soll, und deute hinauf zum oberen Stockwerk. »Schläft Owen?«
Nina blickt zur Treppe und nimmt meine Hand. Leise führt sie mich nach oben. Ich bekomme eine Gänsehaut, als ich an den ersten Morgen denke, den ich hier verbracht habe. Sie linst in Owens Zimmer und hält den Finger an die Lippen. Ich spähe ebenfalls hinein und sehe ihn zusammengerollt auf der Bettdecke liegen, tief schlafend. Eine halb leere Schüssel mit Popcorn steht auf dem Boden.
»Wir haben Gegen jede Regel geguckt«, flüstert Nina.
»Sorry«, sage ich gedämpft. »Ich wollte euch nicht stören.«
Sie schüttelt den Kopf, und wir gehen auf leisen Sohlen in ihr Zimmer. »Es war schon vor einer Stunde zu Ende, aber ich
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