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Bis ich dich finde

Bis ich dich finde

Titel: Bis ich dich finde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Portland ließ sie sich nicht entgehen.
    Alice fuhr zum Hell City Tattoo Festival im Hyatt Regency Hotel in
Columbus, Ohio. (Im Juni, wenn Jack sich recht erinnerte.) In Philadelphia
gefiel es Jacks Mutter anscheinend am besten. Sie besaß ein Foto, auf dem sie
mit Crazy Philadelphia Eddie zu sehen war; er trug immer ein gelbes
Sportjackett und schmierte sich so viel Gel ins Haar, daß es steif hochstand
wie ein Hahnenkamm.
    Wo immer eine Tagung veranstaltet wurde, sei es in Dallas oder in
Dublin, sei es das Meeting of the Marked in Pittsburgh oder das Man’s Ruin in
Decatur, Illinois – Alice war dabei.
    Sie war in Boston und in Hamburg gewesen. Zu ihrer großen
Enttäuschung hatte Herbert Hoffmann sich zur Ruhe gesetzt, doch sie lernte
Robert Gorlt kennen. »Er ist zwei Meter zehn groß und hat in Kanada Basketball
gespielt«, sagte sie zu Jack.
    Zu diesen Tagungen reisten Tätowierer aus aller Welt an: aus Tahiti
und Zypern, aus Samoa, Thailand und Mexiko, aus Miami, Paris und Berlin. Sie
kamen sogar aus Oklahoma, wo das Tätowieren verboten ist. (Es gab keinen Ort,
zu dem Alice nicht gereist wäre, um sich mit Kollegen zu treffen – sie
schreckte nicht einmal vor einem Sheraton Hotel in den Meadowlands zurück.) Und
die Leute, die sich dort trafen, waren immer dieselben.
    »Wenn immer dieselben Spinner da sind, warum fährst du dann
überhaupt hin?« fragte Jack seine Mutter. »Warum immer wieder?«
    »Weil wir dieselben Spinner sind, Jack.
Weil wir sind, was wir tun. Wir ändern uns nicht.«
    »Herrgott, Mom, hast du eigentlich eine Vorstellung, was für eine
Scheiße dir in einem Hyatt Regency in Columbus, Ohio, oder in einem verdammten
Sheraton in den Meadowlands zustoßen kann?«
    [573]  »Wenn Miss Wurtz dich hören könnte, Jack«, sagte seine Mutter.
»Wenn die arme Lottie oder Mrs. Wicksteed – Gott hab sie selig – dich hören
könnten. Es ist wirklich traurig, was mit deiner Ausdrucksweise passiert ist.
Ist Kalifornien schuld daran, oder sind es diese Leute aus der Filmbranche?«
    »Schuld woran?«
    »Vielleicht Emma«, sagte Alice. »Ja, ich bin sicher, es liegt an
deinem Leben mit dieser unflätigen Frau. Immer Herrgott und verdammt. Wenn man dich reden hört, könnte man
meinen, Scheiße wäre ein Allzweckwort! Und dabei
konntest du dich früher so gut ausdrücken. Du wußtest, wie man spricht. Deine
Artikulation war perfekt.«
    Da hatte sie recht, aber es sah ihr ähnlich, das Thema zu wechseln.
Jack wollte ihr – einer Frau in mittleren Jahren – lediglich begreiflich
machen, daß diese Tätowierer-Tagungen nichts weiter als Kuriositätenshows
waren, und seine Mutter nahm Anstoß an seiner Ausdrucksweise. Die Tagungen waren absolut entsetzlich. Die Fullbody-Irren stellten sich zur
Schau und veranstalteten Wettbewerbe! Ehemalige Knackis waren natürlich auch
tätowiert – Gefängnis-Tätowierungen galten als eigenes Genre, das ebenso leicht
zu identifizieren war wie das der Biker-Tätowierungen. Stripteasetänzerinnen
waren tätowiert und Pornostars natürlich sowieso. (Das hatten Jacks
»Recherchen« ergeben, die zahllosen Hank-Long-Filme.)
    Für wen wurden diese Tagungen nach Alice’ Meinung eigentlich
veranstaltet? Jack hatte wütende Voodoo-Puppen und ein von einem Dolch mit der Aufschrift KEINE REUE durchbohrtes Herz gesehen – bei Riley
Baxter’s Tabu Tattoo in West L.A. (Auf Baxters
Visitenkarte stand unter der Abbildung einer solchen Puppe STERILE NADELN .)
    Alice hatte um die Mitte herum zugenommen, ihr hübsches Lächeln aber
nicht verloren. In ihrem Haar, das früher die Farbe von Bernstein oder
Ahornsirup gehabt hatte, waren jetzt graue [574]  Strähnen. Doch ihre Haut war
erstaunlich faltenlos, und ihre Kleidung betonte ihren üppigen Busen: Alice
bevorzugte Kleider mit einer Empire-Taille und einem runden oder eckigen
Ausschnitt. Selbst in ihrem Alter trug sie einen Spitzen- BH , am liebsten in Rot. An jenem Tag im Daughter Alice
hatte sie ein Kleid mit Bateau-Ausschnitt an, so daß man die Träger ihres BH s sehen konnte – aber das war ohnehin meistens der
Fall. Jack hatte den Eindruck, daß es ihr gefiel, ihre BH -Träger
zu zeigen, obwohl sie nie ein Kleid oder eine Bluse mit tiefem Dekolleté trug.
»Mein Busen«, pflegte sie zu sagen, »geht niemanden was an.« (Seltsam, dachte
Jack immer: Jeder sollte wissen, daß sie schöne Brüste hatte, aber nie zeigte
sie auch nur das kleinste bißchen davon.)
    Und was wollte eine Frau, die ihren Busen nicht entblößen

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