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Bis ich dich finde

Bis ich dich finde

Titel: Bis ich dich finde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Suzy Ming, der Schlangenmensch, unauslöschlich in die
Erinnerung – wenn auch nicht unbedingt in die Kunst – hineingewunden hatte.
(Seine Mom rief also nicht von Santa Rosa aus an.)
    Paris, vielleicht. Das würde erklären,
warum sie zu so früher Stunde anrief. In Paris war es Mittag; vielleicht hatte
Alice den Zeitunterschied falsch berechnet. Aber war sie nicht auch von Paris
schon wieder nach Hause zurückgekehrt?
    [590]  Doch, das war sie – jetzt erinnerte er sich wieder. Sie hatte ihm
erzählt, daß sie, neben anderen Tätowierern, auch Onkel Pauly und Little Vinnie
Myers getroffen hatte. Es war keine Tagung gewesen, jedenfalls nicht direkt; es
war vielmehr um die Planung eines Mondial du Tatouage in Paris gegangen. Die
ganze Sache war vermutlich Tin-Tins Idee gewesen; in Alice’ Augen war er der
beste Tätowierer von Paris. Bestimmt war auch Stéphane Chaudesaigues aus
Avignon dagewesen, und Filip Leu aus Lausanne – vielleicht sogar Roonui aus
Mooréa in Französisch-Polynesien.
    Sie waren alle im selben Hotel im Rotlichtviertel abgestiegen. »Vom
Moulin Rouge aus ein Stückchen die Straße runter«, hatte Alice ihm erzählt. An
einem Abend hatte Le Tribal Act, eine Bodypiercing-Gruppe, für denkwürdige
Unterhaltung gesorgt: Sie hatten an die Piercings in ihren Brustwarzen,
Penissen und anderen Körperteilen ein paar ziemlich gewichtige
Haushaltsgegenstände gehängt.
    Aber das war Wochen (vielleicht sogar Monate) her! Jacks Mutter rief
aus Toronto an, wo es genausofrüh am Morgen war wie in New York. Jack mußte
wohl wirklich den Überblick verloren haben.
    »Ach, Jackie, es tut mir leid – es tut mir so leid!« weinte seine
Mutter ins Telefon.
    »Mom, bist du in Toronto?«
    »Natürlich bin ich in Toronto, Liebes«, sagte sie unwirsch. »Ach,
Jackie, es ist so schrecklich !«
    Vielleicht hatte sie in ihrem Studio bis zum Umfallen getrunken oder
gekifft. Sie war gerade aufgewacht – nachdem sie eine Nacht in den Nadeln
geschlafen hatte, stellte Jack sich vor. Oder einer ihrer Kollegen aus der Welt
des Tätowierens war gestorben, einer der Veteranen; vielleicht schlief ein
Seefahrer für alle Zeiten in den Nadeln. Ihr alter
Kumpel Matrosen-Jerry, möglicherweise – ihr Freund aus Halifax und Mitlehrling
bei Charlie Snow.
    [591]  »Ich kann dir das gar nicht sagen, ohne daß mir ganz anders wird,
Liebes«, sagte Alice.
    Womöglich hatte Leslie Oastler sie verlassen – wegen einer anderen
Frau! »Mom, nun sag doch endlich, was los ist, Herrgott noch mal.«
    »Es geht um Emma – Emma ist…«
    »Was ist mit Emma, Mom?«
    Aber er wußte es schon in der Sekunde, in der er es sagte – das
Telefon an seinem Ohr fühlte sich plötzlich kalt an. Jack sah das blendend
blaue Glitzern des Pazifiks vor sich, so wie man ihn zum ersten Mal sieht –
wenn man vom Sunset Boulevard abbiegt und den Chautauqua Boulevard
hinunterdüst. Unter einem der je nach Tageszeit mehrspurig dahinschleichende
oder dahinsausende Verkehr auf dem Pacific Coast Highway, manchmal ein Meer von
Autos, stets ein Betonband – die letzte Barriere zwischen einem selbst und dem
überwältigenden Pazifik.
    »Wie ist das denn passiert?« fragte Jack seine Mutter.
    Daß er im Bett saß und zitterte, wurde ihm erst bewußt, als Mimi
Lederer ihn von hinten so umfaßte, wie sie ihr Cello hielt. Sie schlang die
langen Arme um ihn; ihre langen Beine, weit gespreizt, legten sich um seine Hüften.
    »Leslie ist schon zum Flughafen gefahren«, fuhr Alice fort, als
hätte sie ihn nicht gehört. »Ich hätte mitfahren sollen, aber du kennst ja
Leslie – sie hat nicht mal geweint!«
    »Mom – was ist mit Emma passiert?«
    »O nein – nicht Emma !« rief Mimi Lederer.
Sie war wie ein Leichentuch um Jack drapiert; er spürte, wie ihre Lippen über
seinen Nacken strichen.
    »Jack – du bist nicht allein!« sagte seine Mutter.
    »Natürlich bin ich nicht allein! Was ist
mit Emma passiert, Mom?«
    »Es sieht so aus, als hättest du bei ihr sein sollen, Jack.«
    »Mom –«
    [592]  »Emma war tanzen«, begann Alice. »Beim Tanzen hat sie einen
Jungen kennengelernt. Leslie hat mir gesagt, wie das Lokal heißt. Ach, es ist schrecklich ! Coconut Squeezer oder so ähnlich.«
    » Teaszer, nicht Squeezer, Mom – Coconut Teaszer.«
    »Emma hat den Jungen mit zu sich nach Hause genommen«, sagte Alice.
    Wenn Emma irgendeinen Jüngling aus dem Coconut Teaszer in die
Bruchbude am Entrada Drive abgeschleppt hatte, dann war sie jedenfalls nicht
beim Tanzen

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