Bis ich dich finde
wäre ihm überhaupt nichts zugestoßen. Sein
Gesicht war vollkommen ausdruckslos – »mehr film noir als jeder film noir «, hätte die New
York Times vermutlich geschrieben.
Jack konnte nicht aufhören, sich anzustarren – das war ein weiteres
Problem. Mimi Lederer sagte später, sie habe seinen [595] Anblick nicht ertragen
können, nicht in diesem Moment. »Du bist nicht in einem Film, Jack«, wollte
Mimi sagen, doch Jack sah sie an, als wäre er wirklich Billy Rainbow. »Warum
weinst du nicht?« fragte ihn Mimi Lederer.
Darauf wußte Jack keine Antwort, dabei konnte er Tränen gut. Wenn
seine Rolle vorsah, daß er weinte, fing er normalerweise an, wenn er den
Regieassistenten »Ruhe, bitte« sagen hörte.
»Kamera läuft«, sagte daraufhin der Kameramann. Jacks Augen
schwammen bereits.
»Ton läuft«, sagte der Tontechniker. Jacks Gesicht war
tränenüberströmt.
Wenn dann der Regisseur (und sei es Wild Bill Vanvleck) »Action«
sagte – dann konnte Jack weinen wie ein Weltmeister. Schon beim Lesen des
Drehbuchs stiegen ihm Tränen in die Augen!
Doch an jenem Morgen im The Mark gab Jack den abgebrühten film-noir -Typen wie nie zuvor – ob im Film oder im
wirklichen Leben. Er war so unbewegt wie Emma, als sie geschrieben hatte: »Das
Leben ist eine Tagesdispo. Es wird erwartet, daß man zur vorgegebenen Zeit da
ist, aber das ist auch schon die einzige Regel.«
Und genau das tat Jack Burns – er flog nach L.A. ,
um da zu sein. Wahrscheinlich würde er Mrs. Oastlers Hand halten, weil das
schließlich von ihm erwartet wurde – das waren nun
mal die Regeln.
»Mein Gott, Jack –«, setzte Mimi Lederer an; dann verstummte sie.
Als hätte er etwas verpaßt, was sie gesagt hatte, wurde ihm plötzlich bewußt,
daß sie dabei war, sich anzuziehen. »Wenn du Emma nicht geliebt hast, hast du
nie jemanden geliebt«, sagte Mimi. »Sie war der Mensch, der dir am nächsten
gestanden hat, Jack. Kannst du überhaupt jemanden lieben? Ich glaube nicht,
wenn du sie nicht geliebt hast.«
Das war das letzte Mal, daß er Mimi Lederer sah, und er mochte Mimi
– er mochte sie wirklich. Aber Mimi mochte ihn [596] nach jenem Morgen in The Mark
nicht mehr. Als sie ging, sagte sie, sie wisse nicht, wer er sei. Doch was ihm
angst machte, war, daß er es selbst nicht wußte.
Als Schauspieler konnte er alles sein. Auf der Leinwand hatte die
ganze Welt Jack Burns weinen sehen – als Mann wie als Frau. Viele Male hatte er
seine Wimperntusche zerlaufen lassen – für einen Film gab er alles! Doch um
Emma konnte Jack nicht weinen; er vergoß an diesem Morgen in The Mark nicht
eine einzige Träne.
Es war immer noch recht früh, als er das Hotel verließ, um zum Flughafen
zu fahren. Am Empfang hatte ein junger Mann Dienst, den Jack noch nicht gesehen
hatte – wahrscheinlich derselbe junge Mann, der Alice’ Anruf durchgestellt
hatte. Natürlich wußte der Hotelangestellte, daß es sich um den Jack Burns handelte – das wußte jeder. Doch als Jack hinausging, rief der Mann
ihm etwas nach – in der Stimme äußerste Aufrichtigkeit, wie junge Menschen sie
an den Tag legen, wenn sie es einem wirklich recht machen wollen. »Einen
schönen Tag wünsche ich, Mr. Rainbow!«
Wie sich herausstellte, hatte Jack sich geirrt, als er geglaubt
hatte, Emma sei an einem Herzinfarkt gestorben, der normalerweise mit einigen
typischen Symptomen einhergeht – Schweißausbrüche, Kurzatmigkeit, Benommenheit,
Schmerzen in der Brust. Emma Oastler jedoch war an einer Herzkrankheit namens
Jervell-Lange-Nielsen-Syndrom gestorben, einer Erbkrankheit, die den
Kalium-Influx an den Zellmembranen beeinträchtigt. (Das wiederum führt zu
Störungen bei der Reizleitung im Herzen.) Emma war an einer plötzlichen
Arrhythmie gestorben – Kammerflimmern, hatte ihr Arzt zu Jack gesagt. Ihr Herz
hatte plötzlich aufgehört zu pumpen; Emma war tot gewesen, ehe ihr überhaupt
bewußt geworden war, daß es ihr nicht gutging.
Auf das Jervell-Lange-Nielsen-Syndrom wird man häufig erst [597] beim
plötzlichen Tod des Betroffenen aufmerksam. Bei sechzig Prozent der Patienten
ergibt ein Ruhe- EKG eine Anomalie, aus der ein
Arzt auf das mögliche Vorliegen dieses Syndroms schließen kann. Die übrigen
vierzig Prozent jedoch zeigen keinerlei Befund – es sei denn, man macht ein
Belastungs- EKG . (Bei Emma war nie eins gemacht
worden, erfuhr Jack von ihrem Arzt.)
Außerdem sagte ihm ihr Arzt, ein Anfall mit tödlichem Ausgang könne
durch laute Geräusche, extreme
Weitere Kostenlose Bücher