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Bis ich dich finde

Bis ich dich finde

Titel: Bis ich dich finde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Daher
standen sie, entweder barfuß oder in Nylons, verführerisch vor ihm – ihre Pumps
in der einen und den Plastikbecher mit Weißwein in der anderen Hand, so daß für
die Zahnstocher mit den kleinen Käsewürfeln keine Hand mehr frei blieb.
    Auf Hollywood-Partys, die manche Schauspieler als Castingtermine
betrachten, hatte Jack sich angewöhnt, nichts zu essen und zu trinken. Er
wollte nicht alle möglichen widerlichen Sachen in den Zahnzwischenräumen haben;
er wollte nicht, daß [643]  sein Atem nach Pisse roch. (Für jemanden, der nicht
trinkt, riecht eine Weißweinfahne nach Benzin – oder sonst einem unverbrannten
Treibstoff – und die Ehemaligen bei Emmas Leichenschmaus hatten recht deutliche
Fahnen.)
    Es waren besonders verzweifelt wirkende Frauen Ende Dreißig, Anfang
Vierzig. Nicht wenige von ihnen waren geschieden; ihre Kinder verbrachten das
Wochenende beim Vater, so hieß es jedenfalls mehrfach. Diese Frauen legten ein
schamloses oder zumindest für einen Leichenschmaus unpassendes Draufgängertum
an den Tag.
    Connie Turnbull, die Jack-als-Rochester einst mit den Worten
»Niemals, niemals habe ich erlebt, daß ein Wesen so zerbrechlich und doch
zugleich so unbeugsam war« in die Arme geschlossen hatte, strafte ihre
Jane-Eyre-Ausstrahlung Lügen, indem sie ihm ins Ohr flüsterte, sie sei »beugsam
bis zum Gehtnichtmehr«.
    Miss Wurtz, die Jack zum erstenmal wiedersah, seit er und Claudia
sie vor über zehn Jahren zum Filmfestival von Toronto begleitet hatten, hatte
sich den Kopf auf dramatische Weise mit einem schwarzen Tuch – fast ein
Schleier – verhüllt. Sie glich einem mittelalterlichen Pilger aus einem Flagellantenorden.
Sie war dünner denn je, und ihre vergängliche Schönheit war nicht völlig dahin,
wurde jedoch von einer Aura übernatürlicher Heimsuchung geschmälert, als litte
sie unter Stigmata oder sonst einer Form von unerklärlichen Blutungen.
    »Ich werde dich nicht allein lassen«, flüsterte die Wurtz in
dasselbe Ohr, in das auch Connie Turnbull geflüstert hatte. »Bestimmt hast du
in Kalifornien reichlich freizügige Frauen kennengelernt, aber einige unserer
Ehemaligen sind zu einer Freizügigkeit imstande, wie sie nur Frauen an den Tag
legen, die Freizügigkeit nicht gewohnt sind.«
    »Erbarmen«, sagte er. Es gab nur eine einzige Ehemalige, die ihn, ob
sie nun an der Schwelle zur Freizügigkeit stand oder [644]  nicht, interessierte –
Bonnie Hamilton. Doch sie war trotz ihres auffälligen Hinkens nirgendwo zu
sehen.
    Was die Internatsschülerinnen anging, so hatte Mrs. Malcolm sie mit
ihrem Rollstuhl zusammengetrieben; sie hatte die eingeschüchterten Mädchen in
eine entlegene Ecke der Aula gescheucht, wo Mr. Malcolm versuchte, sie vor
seiner wahnsinnigen Frau zu retten. Rollstuhl-Jane, so Jacks einzige Erklärung,
war darauf bedacht, die jungen Frauen vor ihm, Jack, in Sicherheit zu bringen.
Nach ihrem Denken, soweit davon die Rede sein konnte, war Jack Burns die böse
Reinkarnation seines Vaters; ihrer Ansicht nach war er einzig und allein in der
lüsternen Absicht nach St. Hilda zurückgekehrt, diese Mädchen zu deflorieren,
deren erwachende Sexualität sich an der Nachlässigkeit ablesen ließ, mit der
sie ihre Schuluniformen trugen.
    Jack bemerkte, daß die Schülerin, die einen Schwäche- oder
Ohnmachtsanfall erlitten hatte oder gestolpert war, einen ihrer Schuhe verloren
hatte. Leicht aus dem Gleichgewicht gebracht, schlurfte sie mit dem
verbliebenen Halbschuh im Kreis. Jack ging mit Bedacht zu diesen Schülerinnen
hinüber; sie waren die einzigen, die Exemplare von Emmas Roman mitgebracht
hatten, vermutlich, damit er sie signierte.
    Die Mädchen bekundeten keinerlei sexuelles Interesse an ihm– sie
waren kein bißchen kokett. Die meisten wichen seinem Blick aus, wenn er sie
ansah, und diejenigen, die seinem Blick standhielten, brachten kein Wort
heraus. Sie waren noch halbe Kinder, verlegen und scheu. Es war verrückt von
Mrs. Malcolm zu glauben, sie müßten vor Jack beschützt werden! Eine hielt ihm
ein Exemplar von Emmas erstem Buch zum Signieren hin.
    »Eigentlich wollte ich es von Emma signieren lassen«, sagte sie,
»aber vielleicht wären Sie ja auch so nett.« Die anderen warteten höflich, bis
sie an der Reihe waren.
    Zu der dünnen, etwas instabil wirkenden jungen Frau mit nur einem
Schuh sagte Maureen Yap etwas eindeutig Unfreundliches, [645]  aber
Unverständliches. Es klang wie »Tragt ihr denn keinen Schlaufenkragen?«. Aber
Jack kannte

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