Bis ich dich finde
Blondine auch das angewöhnt.
Auf jener Reise nach Toronto verkniff es sich Jack, mit Bonnie
Hamilton zu schlafen. Sie wollte ihm eine Eigentumswohnung in einer neuen
Anlage verkaufen, die gerade in Rosedale gebaut wurde. »Für den Fall, daß du
Los Angeles mal satt kriegst«, sagte sie zu ihm. Aber ungeachtet dessen, daß er L.A. längst satt hatte, lag ihm Toronto einfach
nicht.
In Toronto hatte er außerdem eine nicht ganz offene Aussprache mit
Caroline Wurtz. Sie war von ihm enttäuscht, weil sie fand, daß er nach seinem
Vater suchen sollte. Er konnte ihr nicht einmal die Hälfte von dem erzählen,
was er auf seiner [853] Wiederholungsreise an die Nordsee erfahren hatte. Er war
nicht in der Verfassung, darüber zu reden. Mit Mühe und Not brachte er es
fertig, Dr. García die Geschichte zu erzählen, und nur allzuoft konnte er auch
mit ihr nicht reden. Er versuchte es, aber er brachte kein Wort heraus, oder er
fing an zu schreien oder zu weinen.
Dr. García war der Meinung, daß Jack zuviel schrie und weinte.
»Besonders das Weinen – das gehört sich einfach nicht für einen Mann«, sagte
sie. »Daran müssen Sie wirklich arbeiten.« Zu diesem Zweck ermutigte sie Jack,
ihr in chronologischer Reihenfolge zu erzählen, was ihm widerfahren war.
»Beginnen Sie mit dieser gräßlichen Reise, die Sie mit Ihrer Mutter unternommen
haben«, wies sie Jack an. »Erzählen Sie mir nicht, was Sie jetzt über diese Reise wissen, sondern was Sie damals glaubten. Beginnen Sie mit dem, was Sie anfangs für Ihre Erinnerungen hielten.
Und versuchen Sie, nicht weiter vorzugreifen, als es unbedingt nötig ist. Mit
anderen Worten: nicht zuviel vorwegnehmen, Jack.« Später – er hatte mit
Kopenhagen begonnen, in seinem vierten Lebensjahr – sagte Dr. García häufig:
»Versuchen Sie, nicht soviel einzuschieben, Jack. Ich weiß, Sie sind kein
Schriftsteller, aber versuchen Sie, einfach bei der Geschichte zu bleiben.«
Daß sie sagte, er sei kein Schriftsteller, kränkte Jack und kam ihm
angesichts seiner nicht unbeträchtlichen Beiträge zu Emmas Drehbuch von Die Schundleserin besonders ungerecht vor.
Außerdem würde es Jahre dauern, seine Lebensgeschichte laut
vorzutragen, das heißt, schlüssig und in chronologischer Reihenfolge zu
erzählen! Das wußte Dr. García; sie hatte es nicht eilig. Ein Blick auf Jacks
desolaten Zustand, und ihr war klar, daß sie einen Weg finden mußte, ihn vom
Schreien und Weinen abzubringen.
»Bedauerlicherweise können Sie mir Ihre Lebensgeschichte offenbar
nur so erzählen, daß jeder im Wartezimmer es [854] mitbekommt«, sagte sie.
»Glauben Sie mir, man kann Ihnen wirklich nur zuhören, wenn Sie sich
beruhigen.«
»Wo soll das eigentlich alles enden?« fragte Jack sie, nachdem er
vier Jahre lang seine Lebensgeschichte vor ihr ausgebreitet hatte und auf das
fünfte zuging.
»Nun ja, es endet damit, daß Sie Ihren Vater suchen oder wenigstens
herausfinden, was aus ihm geworden ist«, sagte Dr. García. »Aber soweit sind
Sie erst, wenn Sie sich auch noch alles andere von der Seele geredet haben. Das
Ende, Jack, ist der Ort, wo Sie ihn finden: Dorthin müssen Sie als letztes
gehen. Sie sind noch nicht fertig mit dem Reisen.«
Jack, der die Nacherzählung seines Lebens mit einem Buch verglich,
kam etwas voreilig zu dem Schluß, die Begegnung mit seinem Vater werde das
letzte Kapitel bilden.
»Das bezweifle ich«, sagte Dr. García. »Vielleicht das vorletzte
Kapitel, wenn Sie Glück haben. Denn wenn Sie ihn finden, Jack, werden Sie etwas
erfahren, was Sie noch nicht gewußt haben, nicht wahr? Ich vermute stark, daß
Sie dafür ein zusätzliches Kapitel brauchen.«
Und einen Namen brauchte die ganze Sache auch, nicht wahr? Die
Geschichte seines Lebens, die Jack unter solchen Vorgaben und in
chronologischer Reihenfolge seiner Therapeutin erzählte, brauchte einen Titel.
Doch den Namen seiner Lebensgeschichte kannte Jack schon, bevor er sie zu erzählen
begann. Schon am ersten Tag, als er zu Dr. García ging und außerstande war,
irgend etwas zu sagen, ohne dabei zu schreien oder zu weinen, wußte er, daß die Bis-ich-dich-finde -Tätowierung seiner Mutter die
Krönung aller ihrer Täuschungsmanöver gewesen war. Bestimmt war sie darauf am
stolzesten gewesen. Warum hätte sie sonst gewollt, daß Leslie Oastler ihm –
wenn auch erst nach ihrem Tod – die Fotos zeigte?
»Warum sollte ich sie überhaupt zu Gesicht kriegen?« hatte er seine
Mutter gefragt.
[855] »Ich war
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