Bis ich dich finde
Herbert Hoffmann
sich zur Ruhe gesetzt habe. Alice habe Hoffmann verehrt, doch er, Jack, werde
Hoffmann ebenfalls in Frieden lassen, auch wenn dieser seinen Vater mit
ziemlicher Sicherheit kennengelernt habe.
»Vielleicht hast du ja Angst, ihn zu finden, Jack, jetzt wo du so
nahe dran bist«, sagte der Polizist.
Diesmal blieb Jack Nico die Antwort schuldig. Nico sollte nicht
hören, daß er Angst hatte.
»Vielleicht hast du ja Angst, deinem Vater wehzutun, oder daß er
dich nicht sehen will«, sagte der Polizist.
»Meinst du denn nicht, daß ich ihm nur noch wehtun würde?« fragte
Jack.
»Vielleicht willst du ihm jetzt, wo du so nahe dran bist, nicht noch
näherkommen – mehr sage ich nicht, Jack.«
[843] »Ja, vielleicht«, entgegnete Jack. Er kam sich nicht mehr wie ein
gestandener Schauspieler vor, sondern war mit einemmal wieder ein Junge, der
seinen Vater nicht gekannt, ein Junge, dem man seinen Vater vorenthalten hatte.
Vielleicht hatte er in Wirklichkeit Angst davor, seinen abwesenden Vater als
Vorwand zu verlieren. Das jedenfalls hätte Claudia ihm gesagt, doch Nico blieb
stumm.
Falls William sich einen Herbert Hoffmann hatte stechen lassen
wollen, so glaubte Jack zu wissen, welches Motiv: eines von Hoffmanns
Segelschiffen, oft dargestellt beim Verlassen des Hafens oder auf hoher See,
auf einer langen Reise. Manchmal sah man auch einen dunklen Leuchtturm, und das
Schiff hielt auf irgendwelche Klippen zu. Herbert Hoffmanns »Seemansgrab«
gehörte zu seinen berühmtesten Tätowierungen; dann waren da noch sein »Letzter
Hafen« und seine »Letzte Reise«. Meistens fuhren Hoffmanns Schiffe irgendeiner
Gefahr oder irgendwelchen unbekannten Abenteuern entgegen. Sie vermittelten
einem ein Gefühl von Abschied, obwohl Hoffmann auch nicht wenige
Heimkehr-Tätowierungen gestochen hatte.
Doch für eine Heimkehr hätte sich sein Vater bestimmt nicht
entschieden. Das Schiff, das ihn von seinem Vater fortgetragen hatte, dürfte –
jedenfalls aus Sicht seines Vaters – eher etwas von Seemannsgrab oder Abschied
gehabt haben. Ein Schiff, das in See sticht, läßt an eine unsichere Zukunft
denken.
Oder aber William war dabei geblieben, sich Musik in die Haut
stechen zu lassen. Auch das konnte sich Jack vorstellen.
Es gab einen Nonstopflug von Los Angeles nach Amsterdam, der
etwas mehr als zehn Stunden dauerte. Richard Gladstein würde müde sein. Er
würde um 16 Uhr 10 in L.A. abfliegen und am
nächsten Vormittag um 11 Uhr 40 in Amsterdam ankommen. Vermutlich würde sich
Richard ein bißchen ausruhen wollen, ehe sie sich abends mit Vanvleck zum Essen
trafen.
[844] Zwei Tage lang verließ Jack sein Hotelzimmer nur, um ins
Fitness-Studio am Rokin zu gehen. Er versorgte sich über den Zimmerservice und
verfaßte seitenlange Episteln an Michele Maher, ohne eine davon abzuschicken.
Doch Briefpapier war im Grand reichlicher und in schickerer Ausführung vorhanden
als im Torni.
Immerhin fiel ihm eine ganz witzige Art ein, wie er Michele als
Hautärztin wegen der Ganzkörpertätowierung fragen konnte.
Liebe Michele,
kannst Du Dir als Hautärztin irgendeinen Grund vorstellen,
warum ein Mensch mit einer Ganzkörpertätowierung u. U. friert?
Bitte kreuze das entsprechende Kästchen an und schick mir die
Antwort im frankierten und adressierten Rückumschlag.
Herzlich, Jack
Auf einer Postkarte mit einem Foto des Oudezijds Voorburgwal gab
er Michele folgende Wahlmöglichkeiten:
□ Nein.
□ Ja. Laß uns darüber reden!
Alles Liebe, Michele
Natürlich schickte er weder den Brief noch die Postkarte ab.
Erstens hatte er keine amerikanische Briefmarke für den Rückumschlag zur Hand,
und zweitens setzte das »Alles Liebe, Michele« nach
fünfzehn Jahren eine ganze Menge als selbstverständlich voraus.
Beinahe hätte Jack am zweiten Tag seines Alleinseins noch einmal Els
in ihrer Wohnung in der Sint Jacobsstraat besucht – nicht weil er mit einer
Prostituierten Mitte Siebzig schlafen wollte, sondern weil er Els einfach
mochte.
[845] Nachts lag er im wesentlichen wach und stellte sich sein kleines
Gesicht auf dem Schiff vor, als seine Mutter ihn hochgehoben hatte, damit er
über die Reling sehen konnte. Er hatte bloß gelächelt und wie verrückt gewinkt,
während ringsum, besonders für seinen Vater, die Katastrophe ihren Lauf nahm.
Vielleicht hatte William in Hamburg jemanden kennengelernt, und
vielleicht hatte ihm das geholfen, Jack zu vergessen, falls er es denn je
geschafft hatte, seinen Sohn zu
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