Bis ich dich finde
achtzehn Jahren, in denen sich nichts zwischen ihnen abgespielt hatte, einen solchen Brief zu schicken.
Doch als Jack für zwei Oscars nominiert wurde (erstens als bester
Nebendarsteller, zweitens für das Drehbuch), sah er darin eine einmalige
Gelegenheit, nicht nur Kontakt mit Michele aufzunehmen, sondern zugleich in
beiläufigem Ton eine Zusammenkunft vorzuschlagen.
Liebe Michele,
ich weiß nicht, ob Du verheiratet oder anderweitig gebunden
bist, aber wenn nicht, hättest Du dann Lust, mich zur Oscarverleihung zu
begleiten? Das hieße, daß Du am Sonntag, dem 26. März, nach Los Angeles kommen
müßtest. Selbstverständlich würde ich für Deine Reise- und Hotelkosten
aufkommen.
Mit freundlichen Grüßen
Jack Burns
Was war daran auszusetzen? War es etwa nicht höflich und
sachbezogen? (Micheles Antwort, die prompt kam, war ein bißchen wischiwaschi.)
[858] Lieber Jack,
und ob ich Lust hätte! Aber ich habe sozusagen einen Freund.
Wir leben nicht zusammen, haben aber eine Beziehung, wie es so schön heißt.
Natürlich bin ich sehr geschmeichelt, daß Du nach so langer Zeit an mich
gedacht hast. Ganz bestimmt werde ich dieses Jahr wach bleiben und mir die
Preisverleihung ansehen, und ich drücke Dir ganz fest die Daumen.
Mit herzlichen Grüßen
Michele
»Schwer zu sagen, ob sie wirklich Lust gehabt hätte, was?«
fragte Jack seine Therapeutin, was dieser den dritten Grund entlockte, warum
sie seinen Brief an Michele mißbilligte.
»Jack, Sie haben großes Glück gehabt, daß Michele abgelehnt hat«,
sagte Dr. García. »Sie wären völlig fertig gewesen, wenn sie ja gesagt hätte!
Sie hätten es vermasselt, wenn sie Ihre Begleiterin gewesen wäre.«
Das fand Jack nicht fair. Er hätte sich prima mit der Presse
amüsieren können: Er hätte bloß sagen müssen, er lasse sich von seiner
Hautärztin zur Preisverleihung begleiten! Aber Dr. García fand das nicht
lustig. Für sie fiel der Fauxpas, Michele zur Preisverleihung einzuladen, in
die »Kategorie der Realitätsverleugnung«. Er sei sich offenbar überhaupt nicht
darüber im klaren, wie weit er von der normalen Welt, von normalen Menschen und
normalen Beziehungen entfernt sei.
»Und was ist mit ihr?« rief er. (Er meinte Michele Maher.) »Was
heißt denn, sie hat sozusagen einen Freund? Ist das
vielleicht normal?«
»Sie sind noch nicht soweit, daß Sie mit Michele Maher Kontakt
aufnehmen können, Jack«, sagte Dr. García. »Sie haben eine Beziehung, die sich,
soweit ich es verstehe, von vornherein nicht entwickelt hat, mit viel zu vielen
unrealistischen Erwartungen [859] überfrachtet – aber egal, davon will ich jetzt
kein Wort mehr hören! Für mich sind Sie noch immer ein Vierjähriger an der
Nordsee. Aus ärztlicher Sicht haben Sie sich noch nicht von Ihrem Meer von
Mädchen erholt, und außerdem muß ich viel mehr über Emma und Ihre Fixierung auf
ältere Frauen wissen. Halten Sie sich bitte an die chronologische Reihenfolge.
Haben wir uns verstanden?«
Sie hatten. Seine Therapeutin war ein Miststück, so kam es ihm
jedenfalls vor, aber er mußte zugeben, daß ihre Therapie seinen Hang,
herumzubrüllen und in Tränen auszubrechen, spürbar verringert hatte. Gleiches
galt für seine Neigung, nachts weinend aufzuwachen, die nach seiner zweiten
Rückkehr von der Nordsee zur Gewohnheit geworden war. Und so blieb Jack bei
ihr, und die Wiedergabe seiner Lebensgeschichte ging immer weiter. Wie von Emma
prophezeit, war Jack Schriftsteller geworden, wenn auch einer, der an
melancholischer Logorrhö litt. Ein Geschichtenerzähler, der sich der mündlichen
Form bediente. (Was er schrieb, beschränkte sich auf die niemals abgeschickten
Briefe an Michele Maher.)
Dr. García war eine kräftig gebaute, aber attraktive
Amerikanerin mexikanischer Herkunft, ihrem Äußeren nach Ende Vierzig. Nach den
Fotos in ihrer Praxis zu schließen, kam sie entweder aus einer großen Familie
oder hatte selbst eine. Jack fragte sie nicht, und die Fotos gaben darüber
keinen Aufschluß.
Unter den Kindern auf den vielen Fotos erkannte er Dr. García nicht
wieder, also waren es vielleicht ihre. Doch der älter wirkende Mann auf den
Fotos wirkte eher so, als wäre er ihr Vater, nicht ihr Ehemann: Er war auf
sämtlichen Bildern gut, ja mit peinlichster Sorgfalt gekleidet, und der
bleistiftdünne Schnurrbart und die sauber gestutzten Koteletten ließen an einen
Charakterdarsteller aus einer längst vergangenen Zeit denken. (Eine Mischung
aus Clifton Webb und Gilbert
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