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Bis ich dich finde

Bis ich dich finde

Titel: Bis ich dich finde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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einmal schön!« hatte Alice gerufen und damit ihre Brüste
in jüngeren Jahren gemeint, wie er damals geglaubt hatte. Doch was ihn
interessierte, war die Tätowierung.
    Noch nach allem, was geschehen war, hatte sie gewollt, daß er die
Tätowierung zu sehen bekam – so stolz war sie darauf gewesen, daß sie sie vor
ihm verborgen gehalten hatte! Von seinem vierten Lebensjahr an sagte dieses Bis ich dich finde alles über Jack Burns, was es zu sagen
gab.
    Als Therapeutin war Dr. García das Gegenteil einer Lektorin. Jack
durfte nichts streichen: Er war gehalten, nichts auszulassen. Und nicht selten
wollte Dr. García noch mehr. Sie verlangte »zusätzliche Belege«. Beispiele für
die von Dr. García schon frühzeitig festgestellte Fixierung auf ältere Frauen
konnten gar nicht deutlich genug herausgestellt werden; die scheinbar
unmotivierte Grausamkeit und Aggressivität, die er in seiner Kindheit bei
älteren Mädchen hervorgerufen habe, sei ein »Grundproblem«. Was hatte Jack an
sich, das diese älteren Mädchen dermaßen provoziert hatte?
    Desgleichen das Penishalten. Am erstaunlichsten daran war nach Dr.
Garcías Einschätzung, daß dies bei Jack nicht zwangsläufig zum
Geschlechtsverkehr führte. Dann sei da die Nähe zu seiner Mutter, die er als
Kind empfunden habe, und die ebenso rasche wie vollständige spätere
Entfremdung: Es sei fast so, als habe Jack die Lügen seiner Mutter schon
durchschaut, bevor er sie tatsächlich als solche erkannt habe.
    Kopfzerbrechen machte Dr. García auch die Beziehung zu Emma, die im
Gegensatz zu seiner Beziehung mit Leslie Oastler stand (aber auch gewisse
Ähnlichkeiten mit dieser aufwies). Ob er noch immer mit Leslie schlafen wolle,
wollte Dr. García wissen. Wenn ja, warum? Wenn nein, warum nicht?
    Dr. García legte sehr viel Wert auf Gründlichkeit. »Mit St. Hilda
bin ich jetzt, glaube ich, fertig«, hatte Jack ihr mehrfach gesagt.
    [856]  »O nein, das sind Sie nicht«, hatte Dr. García geantwortet. »Ein
Junge mit Ihrem Aussehen in einer reinen Mädchenschule? Von wegen! Sie sind
nicht nur nicht fertig mit St. Hilda, Jack, sondern es kann gut sein, daß Sie
überhaupt nie damit fertig werden!«
    Jack bekam die vielen Widersprüche gründlich satt, besonders seine
unrühmliche Rückkehr an die Nordsee. Nicht so Dr. García: Für sie konnte es gar
nicht genügend Widersprüche geben. »Wie lange ist es her, daß Sie daran gedacht
haben, Frauenkleider anzuziehen?« fragte sie ihn. »Ich meine nicht in einem
Film!« (Er mußte wohl gezögert haben.) »Sehen Sie?« sagte sie. »Geben Sie mir
noch mehr Widersprüche – geben Sie mir alles, was Sie haben, Jack.«
    Manchmal hatte Jack das Gefühl, er gehe nicht zu einer Therapeutin,
sondern nehme eher an einem Kurs in kreativem Schreiben teil, ohne jedoch etwas
Geschriebenes vorweisen zu können. Und als Dr. García ihm dann tatsächlich eine
Schreibaufgabe stellte, hätte er die Therapie um ein Haar abgebrochen. Er
sollte Briefe an Michele Maher schreiben, die er aber nicht an Michele
schicken, sondern in den Therapiesitzungen laut vorlesen sollte.
    »Ich sehe keine Möglichkeit, mich Michele verständlich zu machen«,
sagte Jack zu seiner Therapeutin. Damals war es über ein Jahr oder vielmehr
fast zwei Jahre her, daß Michele ihm geschrieben hatte. Er hatte ihren Brief
immer noch nicht beantwortet.
    »Aber eigentlich wollen Sie sich Michele doch verständlich machen,
oder?« fragte Dr. García ihn. Er konnte es nicht leugnen.
    Entnervend war außerdem, daß Dr. Garcías Praxis in der Montana
Avenue in Santa Monica lag, nur wenige Gehminuten von dem Café entfernt, in dem
er Myra Ascheim kennengelernt hatte – auch sie eine ältere Frau, die sein Leben
verändert hatte.
    »Faszinierend«, sagte Dr. García. »Aber jetzt möchte ich [857]  davon
nichts wissen. Bitte halten Sie sich immer an die chronologische Reihenfolge,
Jack.«
    Als Jack 2000 den Oscar für das beste Drehbuch nach einer Romanvorlage
bekam, fand es Dr. García »sehr aufschlußreich«, daß er den Preis (und die
Statuette selbst) als Emmas Oscar bezeichnete. Aber sie erlaubte ihm nicht, ihr
zu erzählen, was er dabei empfunden hatte. Sogar der Oscar hatte sich der
chronologischen Reihenfolge unterzuordnen.
    Und sie mißbilligte aus verschiedenen Gründen seine erste wirkliche
Kommunikation mit Michele Maher. Erstens hatte er ihr den Brief, den er Michele
Maher geschrieben hatte, nicht gezeigt. Zweitens war es lächerlich, Michele
nach fast

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