Bis ich dich finde
Freund«, hob Dr. García hervor. »Können Sie sich erinnern, wie seine Frau
oder seine Kinder heißen? Haben Sie ihn je in El Paso besucht?«
»Sie deprimieren mich«, sagte Jack zu ihr.
»Ich fordere meine Patienten auf, mir von den emotionalsten Momenten
ihres Lebens zu erzählen, von den Höhen und Tiefen, Jack«, sagte Dr. García.
»In Ihrem Fall heißt das, was hat Sie zum Lachen gebracht, was hat Sie zum
Weinen gebracht, und was hat Sie wütend gemacht.«
»Aber ich erzähle Ihnen doch davon, oder?« fragte er sie.
»Aber der Zweck der Übung, Jack, besteht darin, daß Sie sich zu
erkennen geben, wenn Sie mir Ihre Lebensgeschichte erzählen. Das jedenfalls
passiert normalerweise oder soll zumindest passieren. Sie dagegen sind zwar ein
sehr gewissenhafter Geschichtenerzähler – und auch ein sehr gründlicher, wie
ich glaube –, aber ich habe trotzdem nicht das Gefühl, daß ich Sie kenne. Ich
weiß, was Sie alles erlebt haben. Und ob ich es weiß! Aber Sie haben sich nicht
zu erkennen gegeben, Jack. Ich weiß immer noch nicht, wer Sie sind. Bitte sagen
Sie mir, wer Sie sind.«
»Laut meiner Mutter«, begann Jack mit dünner Stimme, die er und Dr.
García als seine Kinderstimme erkannten, »war ich schon Schauspieler, bevor ich
Schauspieler wurde, aber meine lebhaftesten Erinnerungen sind die Augenblicke,
in denen ich [943] das Bedürfnis verspürte, mich an der Hand meiner Mutter
festzuhalten. In diesen Augenblicken habe ich nicht geschauspielert.«
»Dann sollten Sie lieber eine Möglichkeit suchen, ihr zu verzeihen«,
sagte Dr. García sanft. »Vielleicht könnten Sie da etwas von Ihrem Vater
lernen. Das ist jetzt nur eine Vermutung, aber als er Ihrer Mutter verziehen
hat, hat ihn das vielleicht in die Lage versetzt, mit seinem Leben
fortzufahren. Sie sind achtunddreißig, Jack, Sie sind reich, Sie sind berühmt,
aber Sie haben kein eigenes Leben.«
»Mein Vater hätte nicht ohne mich mit seinem Leben fortfahren
dürfen!« schluchzte Jack. »Er hätte mich nicht verlassen dürfen.«
»Sie sollten lieber eine Möglichkeit suchen, auch ihm zu verzeihen«,
seufzte Dr. García. (Jack haßte es, wenn sie seufzte.) »Jetzt weinen Sie schon
wieder«, meinte sie. »Das Weinen nützt Ihnen nichts. Sie müssen damit
aufhören.«
Daß Dr. García ein solches Miststück sein konnte, war der Grund,
warum Jack ihr nichts sagte, als er von Michele Maher hörte. Er fuhr zur
nationalen Dermatologentagung, ohne Dr. García davon in Kenntnis zu setzen,
denn er wußte, daß sie alles in ihrer Macht Stehende tun würde, um ihn davon
abzubringen. Außerdem hatte er Angst vor dem, was sie sagen würde, weil er
wußte, daß sie stets recht hatte.
Was Michele anging, so schrieb sie ihm – als hätte es keinerlei
Verstimmung zwischen ihnen gegeben, als wären die zwanzig Jahre, die sie nicht
in Gesellschaft des jeweils anderen verbracht hatten, kürzer als jene
flüchtigen Sommerferien in Exeter –, sie komme nach Los Angeles und freue sich
sehr, ihn zu sehen.
Sie nehme nicht jedes Jahr an der Dermatologentagung teil, ließ sie
ihn wissen, sondern normalerweise nur, wenn die Veranstaltung im Nordosten
stattfinde. Aber sie sei noch nie in L.A. [944] gewesen. ( »Kannst Du Dir das vorstellen?« schrieb
sie.) Und weil ihr die Tagung in diesem Jahr Gelegenheit biete, Jack zu sehen…
Nun, es klang jedenfalls so, als wäre er der Grund, warum sie beschlossen
hatte, sich ein langes Wochenende mit einem Haufen Hautärzten in einem schicken
Hotel in Hollywood anzutun.
Die Dermatologen hatten sich für eines jener ärgerlichen Hotels in
Universal City entschieden. Mit Blick auf die Hollywood Hills erhob sich das
Sheraton Universal gegenüber den Universal Studios – dem Themenpark – aus einer
Landschaft von Tonfilmstudios, die wie Bunker aussahen. Es machte den Eindruck
eines Ferienhotels, es sah aus wie ein Ort, wohin Tagungsteilnehmer nicht selten
ihre Familien mitnahmen.
Während sich die Dermatologen über die Haut unterhielten, konnten
sich ihre Kinder mit den Fahrgeschäften des Themenparks vergnügen. Im
südkalifornischen Klima, stellte sich Jack vor, waren die Kinder von
Dermatologen bestimmt dick mit Sonnencreme eingeschmiert und bis zu den Augen
eingepackt. Eigentlich wunderte ihn schon, daß Dermatologen an einem derart
sonnigen Ort überhaupt eine Tagung abhielten.
Michele Mahers Brief war geradezu keß: Sie schrieb ihm, ganz die
alte, mit der Schnodderigkeit der einstigen
Weitere Kostenlose Bücher