Bis ich dich finde
»Ich glaube, Dougie will sagen, daß wir alle darauf brennen,
näheres über Lucy zu erfahren«, sagte die Frau. Vermutlich war sie tatsächlich
McSwineys Begleiterin, wenn nicht gar seine Frau. Sie hatte in etwa sein Alter,
war also schätzungsweise Ende Vierzig, vielleicht Anfang Fünfzig.
»Na ja, Lucy ist erheblich jünger als alle hier am Tisch – hübschere
Titten und so weiter«, sagte Jack. So hätte es auch Billy Rainbow gesagt. Jetzt
lächelte niemand mehr.
»Bitte tun Sie ihm nicht weh«, sagte die Frau.
»Mehr wollte ich gar nicht hören«, sagte Jack. Er lockerte den
Doppelnelson. »Ihnen ist hoffentlich klar, daß ich Ihnen ohne weiteres hätte
weh tun können«, sagte Jack zu McSwiney, der zu nicken versuchte.
Jack ließ ihn los und trat vom Tisch zurück. Er rechnete halb damit,
daß McSwiney sich hochrappeln und unter wilden Schwingern auf ihn losgehen
würde. Aber der Dicke blieb einfach sitzen und wirkte eher zahm als
kämpferisch.
Die Frau, die Jack angesprochen hatte, befeuchtete mit ihrem
Wasserglas ihre Serviette und begann sich um McSwiney zu kümmern. Sie zupfte
ihm Reiskörner aus Haaren und Bart und fand dabei auch ein, zwei Shrimps, etwas
Wurst und ein Stück Huhn. Sie säuberte ihn, so gut es ging, aber gegen den
Safran war nichts auszurichten: Bart und Stirn des Autors waren kürbisorange
verfärbt.
Ein Kellner, der die ganze Zeit zugesehen hatte, behielt Jack im
Auge, der an seinen Tisch zurückkehrte, sich nun aber mit dem Rücken zum
Fenster setzte, so daß er McSwiney und seine Gesellschaft im Blickfeld hatte.
Er sah nicht direkt zu ihnen hin, wollte McSwiney jedoch kommen sehen, falls
dieser auf ihn losging. Die Frau, die ihn gebeten hatte, McSwiney nicht weh zu
tun, sah von Zeit zu Zeit zu Jack herüber, ohne daß ihr Gesichtsausdruck klar
erkennbar gewesen wäre.
Jack winkte den Kellner zu sich und sagte: »Falls die [935] Herrschaften bleiben, dann bieten Sie Mr. McSwiney bitte eine frische Paella
an. Auf meine Rechnung.«
»Sie bleiben nicht«, sagte der Kellner. »Mr. McSwiney hat Schmerzen
in der Brust. Das ist auch der Grund, warum sie gehen.«
Den Tod des versoffenen Rüpels mitzuverschulden, wäre ungut: Der
übergewichtige Autor war ein Donnergott des kanadischen Geisteslebens.
Möglicherweise würde die Obduktion ergeben, daß McSwiney Reis in der Lunge
hatte. Er war mit Hilfe einer Mahlzeit ermordet worden. Die Mordwaffe war die
Paella gewesen! Im ganzen Land würden Elogen verfaßt werden: Eine Stimme, die
wie ein Sturmwind über die Landschaft Kanadas hinweggefegt sei, sei für immer
verstummt. Am allerschlimmsten würden die ausführlichen Zitate aus McSwineys
Werk sein, gargantueske Beschreibungen von Felsen, Bäumen und Möwen im Quill & Quire.
»Wissen Sie zufällig, ob Mr. McSwiney schon einmal Schmerzen in der
Brust hatte?« fragte Jack den gequält dreinschauenden Kellner.
»Aber ja, andauernd«, sagte dieser. »Er hat fürchterliches
Sodbrennen.«
Jack bestellte ein Bier. Seit dem Heineken auf der Party in der Polo
Lounge im Anschluß an die Oscarverleihung hatte er keins mehr getrunken. Er
stellte fest, daß ein größerer Batzen von McSwineys Paella auf seiner Hose
gelandet war. Er war so beschäftigt gewesen, daß er es irgendwie übersehen
hatte. Jack wischte die Schweinerei – den mit safrangelbem Reis überzogenen Shrimp,
die klebrige Wurst – mit einer Serviette ab, konnte aber (wie McSwiney) nichts
gegen den Safranfleck ausrichten.
Jedesmal wenn er den gequält dreinschauenden Kellner sah,
beunruhigte ihn der Gedanke an McSwineys Brustschmerzen. Er hoffte aufrichtig, daß
es sich nur um Sodbrennen handelte. McSwiney war zwar ein Arschloch, aber zum
Sterben noch zu [936] jung. Jack hatte sich bemüht, dem Mistkerl nicht weh zu tun;
es wäre zu grausam gewesen, wenn sich herausstellte, daß er Doug McSwiney
umgebracht hatte, und sei es nur aus Leichtsinn!
Soweit Halifax. Nach seiner Rückkehr bat er Dr. García, ihr ein
wenig von den Ereignissen erzählen zu dürfen. (Schließlich könnte es bei
Einhaltung der chronologischen Reihenfolge ein Jahr oder noch länger dauern,
ehe Jack zu diesem Teil seiner Lebensgeschichte kam.) Weil seine Therapeutin
sah, daß er erregt war, und weil sie bereits mit Lucy und deren Mutter über die
Geschichte mit Lucy gesprochen hatte, ließ sie ihm seinen Willen. Zumindest die
Sache mit Doug McSwiney durfte er erzählen.
Er gestand, er habe Glück gehabt, daß McSwineys Brustschmerzen
harmloser
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