Bis ich dich finde
Gläser ihrer Schildpattbrille waren mandelförmig: Sie sei ebenso
kurzsichtig wie schon ihre Mutter, erklärte sie, weigere sich jedoch,
Kontaktlinsen zu tragen, weil sie das Gefühl eines Fremdkörpers im Auge nicht
leiden könne. Wenn sie etwas [1014] älter sei, wolle sie es mit der neuen
Lasermethode probieren. (Das alles erzählte sie Jack, noch bevor sie sich
setzte.)
Sie hatten einander die Hand, aber keinen Kuß gegeben. Sie bestellte
sich Tee, keinen Kaffee. »Du siehst genauso aus wie er«, sagte sie. »Ich meine,
du siehst weniger wie Jack Burns aus, als ich gedacht hätte, und mehr wie unser
Vater.«
»Ich kann es gar nicht erwarten, ihn zu sehen«, sagte er.
»Das wirst du aber müssen.«
»Das ist nur so eine Redewendung«, erklärte Jack. Sie waren beide
nervös.
Sie erzählte von ihren fünf Mitbewohnern. Sie werde demnächst dort
ausziehen, zusammen mit einer anderen Frau. Zwei ihrer Mitbewohner betrieben
eine Nichtraucher-Klinik; sie seien Veganer, die glaubten, alles Stachelförmige
ziehe schlechte Energie an. Sie, Heather, habe im Küchenbereich ein paar
Kakteen aufgestellt, sie aber wieder entfernen müssen – »zu viele Stacheln«.
Außerdem hätten die Veganer den Vermieter bekniet, die Wetterfahne vom Dach des
Hauses zu entfernen. Meine Schwester wohnt mit
Geistesgestörten zusammen!, dachte Jack.
Jack erklärte, er sei gerade dabei, sein Haus in Santa Monica zu
verkaufen, habe aber keine Ahnung, wo er leben wolle.
Heather wußte, daß er unter dem Namen Harry Mocco im Balmoral
abgestiegen war, und fragte, warum. Jack wollte wissen, was sie an der
Universität unterrichtete. (Sie gab fünf musikhistorische und musiktheoretische
Seminare, hauptsächlich für Anfänger, und außerdem Klavierunterricht.)
»Unsere Fakultät besteht nur aus alten Männern!« sagte Heather
gutmütig.
Jack fand seine Schwester trotz Brille hübsch. Sie hatte etwas
akademisch Abgehobenes oder Distanziertes an sich und trug so gut wie gar kein
Make-up, dafür aber einen hübschen Leinenrock mit dazu passendem T-Shirt und
vernünftig aussehende Straßenschuhe.
[1015] Er bat sie, ihm zu zeigen, wo sie arbeitete und wo sie wohnte. Im
Gehen bewegte Heather ständig die Finger, als spielte sie unbewußt Klavier oder
Orgel.
Die Übungsräume im Kellergeschoß von Alison House glichen
Gefängniszellen. Es waren kleine, schlecht belüftete Kabuffs. Die Wände waren
in einem schmutzigen Erbsensuppengrün gestrichen, die Böden mit scheußlichem
orangefarbenen Linoleum ausgelegt. Die Beleuchtung war einigermaßen ausreichend
und kam von Leuchtstofflampen, die laut Heather der Gesundheit schadeten.
Jack fand, daß das Wort Gesundheit eine
gute Überleitung zu einem Gespräch über ihren Vater bot, aber sie erlebten
beide so etwas wie das Pendant zu einem ersten Rendezvous. (Sie mußten zuerst
eine Unmenge von Banalitäten austauschen, ehe sie zu ernsthafteren Themen
vorstoßen konnten.)
Der Vorlesungssaal in Alison House war freundlicher als die
Übungsräume. Die großen Fenster ließen viel Tageslicht herein, obwohl die
Aussicht durch ein altes Steingebäude begrenzt war. Im Saal standen zwei
Klaviere und eine kleine Orgel, doch als Jack seine Schwester bat, ihm etwas
vorzuspielen, schüttelte sie nur den Kopf und lotste ihn zu einer schmalen
Wendeltreppe, die zu ihrem Büro führte. Er hatte den Eindruck, sie wollte, daß
er beim Hinaufsteigen voranging.
»Können wir über ihn reden?« fragte er. »Vielleicht könnten wir mit
der Arthrose anfangen, wenn das ein Thema ist, über das du leichter reden
kannst.«
Sie starrte auf den blauen Teppich ihres Büros, während ihre Finger
in die Tastatur eines Instruments griffen, das nur sie selbst sehen konnte. Sie
nestelte an ihrem Rock. Die cremefarbenen Wände waren grob verputzt. Es gab
zwei Schreibtische – auf dem größeren stand ein Computer, auf dem kleineren lag
ein deutsches Wörterbuch. Die Stereoanlage war vermutlich mehr wert als alles,
was das Büro sonst noch enthielt, einschließlich des [1016] kleinen Klaviers. In
den Regalen standen mehr CD s als Bücher, und an
der Pinnwand war ein sepiabraunes Foto von Brahms befestigt. Außerdem hing dort
eine Postkarte: ein Farbfoto von einem sehr alt aussehenden Pianoforte, wie man
es in einem musikhistorischen Museum finden würde. Vielleicht hatte ein Freund
ihr die Postkarte geschickt – ihr irischer Freund, vielleicht –, vielleicht kam
sie aber auch von William, falls William in der Lage war,
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