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Bis ich dich finde

Bis ich dich finde

Titel: Bis ich dich finde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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ging – den Kopf
gesenkt, mit schwingenden Armen und nach vorn rollenden Schultern –, hätte man
meinen können, sie marschierten mitten in einen Sturm.
    »All die Jahre, in denen ich aufgewachsen bin, hat Daddy mir jeden
Tag gesagt, daß er dich genauso liebt wie mich«, sagte Heather, die ihn immer
noch nicht ansah. »Weil er nie mit dir zusammensein konnte, hat er gesagt, er
liebt mich doppelt. Er hat gesagt, er muß mich für zwei lieben.«
    Ihre Finger spielten auf einer imaginären Tastatur aus Luft; für
Jack gab es keine Möglichkeit, der Musik im Kopf seiner Schwester zu folgen.
»Natürlich habe ich dich gehaßt«, sagte [1019]  Heather. »Wenn er mich für zwei
lieben mußte, weil er dich so sehr vermißte, hieß das für mich, daß er dich
mehr liebte. So denken Kinder nun mal, stimmt’s?« Sie blieb plötzlich stehen
und sah ihn an. Ohne auf eine Antwort zu warten, sagte sie: »Wir sind da – die
Straße und das Haus, wo ich wohne.« Sie verschränkte die Arme vor ihrem kleinen
Busen, als hätten Jack und sie miteinander gestritten.
    »Haßt du mich etwa immer noch?« fragte er sie.
    »Das ist noch nicht ausgemacht, Jack.«
    In der Straße war viel los: eine Menge kleiner Läden, ziemlich
dichter Verkehr. Das Gebäude, in dem sie wohnte, war fünf oder sechs Stockwerke
hoch und von einem schmiedeeisernen Zaun umgeben. Die Haustür war hellrot. Die
Wände im Eingangsflur waren gekachelt, die Steintreppe hatte ein eisernes
Geländer mit einem Handlauf aus Holz.
    »Geh du voran«, sagte Heather und deutete die Treppe hinauf.
    Jack fragte sich, ob sie im Hinblick auf Treppen abergläubisch war.
Er ging drei Treppen hinauf, ehe er sich zu ihr umdrehte. »Nur weiter«, sagte
sie. »Keine halbwegs normale Frau hätte Lust, sich von Jack Burns dabei zusehen
zu lassen, wie sie eine Treppe hinauf- oder hinuntergeht. Ich wäre so gehemmt,
daß ich wahrscheinlich über meine eigenen Füße stolpern würde.«
    »Wieso?«
    »Ich würde mich fragen, wie ich im Vergleich mit all den schönen
Frauen abschneide, die du gesehen hast – von hinten und sonstwie«, sagt
Heather.
    »Ist der Fahrstuhl kaputt?« fragte Jack.
    »Es gibt keinen Fahrstuhl«, sagte sie. »Das Haus hat fünf
Stockwerke. In Edinburgh gibt es viele hohe Räume, und hohe Räume bedeuten
lange Treppen.«
    Im Flur der Wohnung dominierten warme, aber schlichte Farben: Mauve,
Cremeweiß, Mahagoni. Die Wohnung selbst hatte [1020]  die von Heather angesprochenen
hohen Räume. Die Wände waren in leuchtenden Farben gestrichen, das Wohnzimmer
rot, die Küche gelb. Auf die fünf Mitbewohner deuteten nur die zwei Herde und
die zwei Kühlschränke in der Küche hin. Alles war sauber und ordentlich – das
mußte es auch sein, um das Leben mit fünf Mitbewohnern erträglich zu machen.
Jack fragte nicht, wie viele Badezimmer es gab. (Für fünf Mitbewohner konnte es
nicht genug geben.)
    Heathers Zimmer – mit einem Schreibtisch, vielen Regalen und einem
breiten Bett – hatte maulbeerfarbene Wände und riesige Fenster, die auf
Bruntsfield Gardens gingen. Bei den Büchern handelte es sich hauptsächlich um
Romane, und wie in ihrem Büro in der Universität gab es mehr CD s als Bücher und eine hochwertig aussehende
Stereoanlage. Dem Bett gegenüber standen ein Videogerät, ein DVD -Player und ein Fernseher. Unter den DVD s und Videos auf ihrem Nachttischchen sah Jack auch
einige seiner Filme.
    »Dich schaue ich mir an, wenn ich nicht einschlafen kann«, sagte
seine Schwester. »Manchmal auch ohne Ton.«
    »Wegen deiner Mitbewohner?« fragte er.
    Sie zuckte die Achseln. »Denen ist es egal, ob der Ton an- oder
abgedreht ist«, sagte sie. »Der Grund ist, daß ich alle deine Texte auswendig
kann und manchmal Lust habe, sie selbst zu sprechen.«
    Außer dem Schreibtischstuhl und dem Bett gab es keine
Sitzgelegenheit. Es war im Grunde wie ein Zimmer in einem Wohnheim, nur größer
und schöner.
    »Du kannst dich aufs Bett setzen«, sagte Heather. »Ich mache uns
Tee.«
    Auf dem Schreibtisch stand ein gerahmtes Foto: Es zeigte einen jung
aussehenden William Burns, der mit Heather-als-kleinem-Mädchen auf dem Schoß
Orgel spielte. Als Jack sich aufs Bett setzte, reichte Heather ihm ein
ledergebundenes [1021]  Fotoalbum. »Die Bilder erklären sich eigentlich von selbst«,
sagte sie und ließ ihn im Zimmer allein.
    Das war nett von ihr. Sie konnte sich wohl denken, daß er nicht
allzu viele Fotos seines Vaters gesehen hatte und lieber allein war, wenn er
nun

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