Bis ich dich finde
strenge Großmutter, wie Jack sich vorstellte –, hingen wahrscheinlich
neuere Fotos. (Von ihren Kindern als Erwachsene, von ihren unzähligen
Enkelkindern, möglicherweise von Haustieren.) Doch dort, wo sie arbeitete, wo
sie jene beriet, die sich entsetzlich leid taten, hatte Dr. García ein
nüchternes Denkmal früherer Freude und bleibenden Kummers zusammengestellt.
Als sie einen Mann geheiratet habe, der älter war als sie selbst,
hatte sie Elizabeth einmal anvertraut, sei ihr klar gewesen, daß er früher
sterben werde als sie. »Ich habe bloß nicht geahnt, wieviel früher!« hatte sie
lachend gesagt.
»Lachend?« fragte Jack die Sprechstundenhilfe. »Hat Dr. García
wirklich gelacht, als sie das gesagt hat?«
»Genau darauf kommt es doch an, oder?« antwortete Elizabeth.
Auch daraus sprach eine Lockerheit, die man in Wien oder New York
niemals toleriert hätte: Dort hätte Elizabeths Offenheit gegenüber Jack als
unprofessionell gegolten – so wie vermutlich auch Dr. Garcías Beharren auf
chronologischer Reihenfolge als Therapie. Allerdings funktionierte es.
Auf Dr. Garcías Schreibtisch lag ein Rezeptblock. Jack überlegte,
was er ihr sagen wollte und ob es auf eine Seite des Rezeptblocks paßte. Er kam
zu dem Schluß, daß er es passend machen konnte, wenn er darauf achtete, nicht
zu groß zu schreiben.
Liebe Frau Dr. García,
ich fliege nach Edinburgh, um meine Schwester
und vielleicht auch meinen Vater zu treffen!
Wenn ich zurückkomme, bringe ich das Ganze
für Sie in eine chronologische Reihenfolge.
Das mit Ihrem Mann tut mir leid.
Jack
[1007] Dann ging er ins Wartezimmer, wo ein Kindermädchen einem
Vier- oder Fünfjährigen aus einem Kinderbuch vorlas. (In einer Welt lockerer
Arrangements hatte Jack gelernt, nicht zu fragen, warum die jungen Mütter ihre
Kinder nicht einfach mit den Kindermädchen zu Hause ließen.) Das Kindermädchen
blickte zu Jack auf, als er aus dem Sprechzimmer kam, doch das Kind beachtete
ihn nicht. Auf einer kleinen Couch lag, in Fetushaltung zusammengekrümmt und
mit dem Gesicht zur Wand, eine der jungen Mütter. Jack konnte sie nicht weinen
hören, aber ihre Schultern bebten.
»Ich habe Dr. García eine Nachricht hinterlassen – sie liegt auf
ihrem Schreibtisch«, sagte er zu Elizabeth.
»Kann ich ihr sonst noch etwas ausrichten? Ich meine, zusätzlich zu
der Nachricht«, sagte Elizabeth.
»Sagen Sie ihr, daß ich heute keinen Termin bei ihr brauche«, sagte
er. »Sagen Sie ihr, ich hätte fröhlich ausgesehen.«
»Das ist ein bißchen viel verlangt. Wie wär’s mit ›fröhlicher als
sonst‹?« schlug Elizabeth vor.
»Das ist okay«, sagte er.
»Geben Sie auf sich acht, Jack. Drehen Sie nicht durch oder so.«
[1008] 37
Edinburgh
Jack war achtunddreißig, seine Schwester Heather achtund
zwanzig. Wie tritt man jemandem gegenüber, den man eigentlich schon seit früher
Kindheit hätte kennen müssen? Jack spielte erst einmal auf Zeit. Er traf einen
Tag früher in Edinburgh ein, als er Heather angekündigt hatte. Er hatte sich um
die Vergangenheit seiner Mutter zu kümmern. Was ihn und Heather
zusammengebracht hatte, war sein Vater. Er wollte Heather von der Geschichte
seiner Mutter in Edinburgh getrennt halten.
Der Doorman im Balmoral, ein strammer junger Mann im Kilt, war der
erste, der ihn fragte, ob er zum »Festival« in die Stadt gekommen sei – eine
Frage, die ihm noch mehrfach gestellt werden sollte.
Jack hatte eine Ecksuite, die auf die Princes Street ging. (Vom
Fenster aus fiel der Blick auf eine chaotisch anmutende Trampolin-Anlage.) Auf
der Princes Street herrschte dichter Fußgängerverkehr: Leute mit Einkaufstüten,
Touristen, die Stadtpläne zusammen- und auseinanderfalteten. Mit Hilfe des
Portiers mietete Jack einen Wagen samt Fahrer, der ihn nach Leith, Alice’
früherem Revier, brachte. Dort war weniger los: Offenbar war der Stadtteil
nicht unbedingt beliebt.
Die falschen Zähne des Fahrers saßen zu locker. Er hieß Rory, und
beim Reden klickten seine Zähne.
Jack wollte St. Thomas sehen, wo Alice im Chor gesungen hatte –
damals, ehe sie in der Pfarrkirche von Süd-Leith William kennenlernte, noch in
aller Unschuld. St. Thomas gab es nicht mehr, aber Rory, der in Leith geboren
war, wußte noch, wo die Kirche stand und was aus ihr geworden war. St. Thomas [1009] diente seit über zwanzig Jahren als Sikh-Tempel. Das einstige Leith Hospital,
das Alice dermaßen deprimiert hatte, daß sie von St. Thomas zu einer
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