Bis ich dich finde
plötzlich so viele auf einmal sah.
Die Fotos in dem Album waren chronologisch geordnet. Barbara Steiner
war klein und blond, aber voller im Gesicht als ihre Tochter und nicht
annähernd so hübsch. Heather hatte ihr gutes Aussehen von William. Er trug sein
Haar nach wie vor lang – Miss Wurtz hätte sich gefreut – und war mit
zunehmendem Alter dünner geworden. Es gab viel mehr Bilder von ihm mit Heather
– als kleinem Mädchen und als Teenager – als von Heather mit ihrer Mutter oder
von ihm mit Barbara Steiner. Aber es war natürlich Heathers Album, und sie
hatte wohl die Fotos dafür ausgesucht.
Am meisten hatten es ihr offensichtlich die Fotos von den
Skiurlauben mit ihrem Vater angetan: Postkarten aus Wengen, Lech und Zermatt
wechselten sich mit Fotos von Heather und William auf Skiern ab. (Ein kalter
Sport für jemanden, der zum Frieren neigte, dachte Jack, aber William Burns
schien sich in Skikleidung wohlzufühlen – oder aber er freute sich so sehr
darüber, mit seiner Tochter Ski zu fahren, daß das Gefühl ihn wärmte.)
Der Gesichtsausdruck von Heathers Mutter hatte auf keinem der Bilder
etwas Leidendes, und man sah ihr auch nicht an, daß sie einmal eine wunderbare
Singstimme gehabt hatte. Ihre Posen hatten allerdings etwas Bemühtes –
besonders auf den Fotos, auf denen sie eine Perücke trug –, und dann kam sie
auf einmal nicht mehr vor. Jack blätterte eine Seite des Albums um, und Barbara
Steiner war fort. Er wußte genau, wann er den Moment ihres Todes passiert hatte:
Von dieser Stelle an zeigten sämtliche Fotos nur noch Heather und ihren Vater,
nur sie beide oder den einen oder die andere allein.
Den früheren Seiten waren Konzertprogramme beigeheftet, [1022] doch etwa
von der Zeit an, wo Heather ihrem Äußeren nach zwölf oder dreizehn gewesen war,
hatte William Burns offenbar keine Konzerte mehr gegeben.
Auf manchen Fotos erkannte Jack das Innere der Central Bar, und
neben Bildern der flötespielenden Heather gab es auch solche, auf denen William
– mal allein, mal von seiner Tochter auf der Flöte begleitet – ein
klavierähnliches Instrument spielte. Es handelte sich um eine Art elektrisches
Keyboard, das Synthesizer hieß, wie Jack zu wissen meinte – und so wie William
und Heather dreinschauten, bezweifelte er, daß sie etwas Klassisches spielten.
Er wußte, warum sein Vater auf vielen Bildern für die Jahreszeit
ersichtlich zu warm angezogen war. (William fror oft, außer beim Skilaufen.)
Doch selbst auf den Schnappschüssen von Sommerurlauben, die William in einer
Badehose am Strand zeigten, waren seine Tätowierungen nicht sehr deutlich zu
sehen oder voneinander zu unterscheiden. Wenn Noten so klein sind, daß man sie
nicht im Detail erkennen kann, sehen sie wie eine Handschrift aus – besonders
für jemanden wie Jack, der keine Noten lesen konnte.
Er schämte sich, daß er Claudia gesagt hatte, er wolle keine Kinder
– jedenfalls nicht »bis zu dem Tag, an dem ich herausfinde, daß mein Vater
einem oder sogar mehreren Kindern, die er nicht verlassen hat, ein liebevoller Vater war«, wie er es ausgedrückt hatte.
Der Beweis dafür, daß es sich so verhielt, lag auf seinem Schoß.
Heathers Fotoalbum war ein Zeugnis ihrer Liebe für ihren Vater und Williams
Liebe für sie. Als Heather mit dem Tee ins Zimmer kam, hatte er sich das Album
angeschaut und sich soweit gefaßt, daß er die Bilder ein zweites Mal betrachten
konnte. Sie setzte sich neben ihn aufs Bett.
»An manchen Stellen hast du Fotos herausgenommen, oder sie sind von
selbst herausgefallen«, sagte er zu ihr.
[1023] »Ex-Freunde. Ich habe sie herausgenommen«, sagte sie.
Jack hatte niemanden gesehen, bei dem es sich um den irischen Freund
handeln konnte. Er hatte den Eindruck, daß dieser Freund nicht unbedingt die
Liebe ihres Lebens war, aber er fragte nicht nach.
Er blätterte zu den Fotos von Heather und William, auf denen sie im
Central spielten. »Ich war gestern dort, um mir anzusehen, wo du Flöte
spielst«, sagte er.
»Ich weiß. Ein Freund von mir hat dich gesehen. Wieso hast du mich
nicht gefragt, ob ich mitkomme?«
»Ich habe mich in Leith umgesehen, hauptsächlich an Orten, die ich
von Erzählungen meiner Mutter in Erinnerung habe«, erklärte Jack.
Er blätterte zu den letzten Seiten des Albums weiter, wo ihr Vater
schon Handschuhe trug. »Was fehlt ihm?« fragte er. »Ich meine die psychische
Seite, nicht die Arthrose.«
Heather legte den Kopf schräg, so daß er auf Jacks Schulter
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