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Bis ich dich finde

Bis ich dich finde

Titel: Bis ich dich finde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Kirche gewechselt war, bot nach wie vor einen deprimierenden Anblick.
Mittlerweile, erzählte Rory, sei es nur noch eine Ambulanz. Die nicht mehr
genutzten Gebäudeteile sahen verwahrlost und heruntergekommen aus; im
Erdgeschoß war die Hälfte der Fenster eingeschlagen.
    Jack wußte, was Dr. García gesagt hätte, wenn sie in diesem
Augenblick bei ihm und Rory gewesen wäre. »Wenn es St. Thomas nicht mehr gibt,
wenn eine ganze Kirche die Vergangenheit loslassen kann, warum können Sie das
dann nicht, Jack?«
    Die Pfarrkirche von Süd-Leith, wo Alice zum erstenmal für William
gesungen hatte, bot einen vielfältigeren Eindruck. Die hohen Mauern entlang der
Constitution Street, die den Zutritt zu dem beliebten Friedhof verwehren
sollten, standen im Gegensatz zu einem umgestürzten Grabstein, auf dem HIER LIEGEN DIE ÜBERRESTE VON ROBERT CALDCLEUGH stand.
Die schwer zu entziffernde Jahreszahl war 1482. Ein Rundgang zwischen den
Grabsteinen zeigte Jack, daß die letzte Beerdigung 1972 stattgefunden hatte. Er
hätte hier nicht begraben sein wollen. Wenn man auf dem nach Süden gehenden
Friedhof lag, blickte man in alle Ewigkeit auf ein häßliches, sechzehnstöckiges
Hochhaus.
    Was die Umgebung des Leith Walk anging, wo einmal eine
Eisenbahnbrücke die Mandelson mit der Jane Street verbunden hatte – Aberdeen
Bills Studio, das »Persevere«, hatte unter dem Gerumpel der Züge gelegen –, so
war von den »alten Mietshäusern«, die Alice ihm geschildert hatte, so gut wie
gar nichts zu sehen. (In ihrer Kindheit seien das hauptsächlich kleine Läden
mit darüber liegenden Wohnungen gewesen, »die gerade mal ein Minimum an
Sicherheit und Komfort boten« – so jedenfalls hatte sie sich ausgedrückt.)
Übriggeblieben waren nur die Bögen der Eisenbahnbrücke, die als Autowerkstätten
genutzt wurden. Die größte war eine VW -Werkstatt.
    [1010]  Die Wohnungen hier waren neuer als die schäbigen, Ende des
neunzehnten Jahrhunderts entstandenen Gebäude, die große Teile des Leith Walk
säumten: nicht die »alten Mietshäuser«, die Alice beklagt hatte, sondern
Wohnungen für Senioren. Gebaut hatte man sie Ende der Siebziger, laut Rory für
»Witwen und Witwer«.
    Von dem Kino, das sich angeblich »nur einen Steinwurf vom Persevere
entfernt« befand, wie seine Mutter behauptet hatte, war nichts zu sehen. Aber
Rory erinnerte sich noch daran: Es war zu einer Bingohalle namens The Mecca
geworden.
    Ansonsten gab es im Leith Walk Minimärkte, die Rory »Eckläden«
nannte. Der Leith Walk war zwar im wesentlichen eine Wohnstraße, aber es gab
auch Pubs, Schnellrestaurants und die allgegenwärtigen Videoläden. Offenbar
wohnten hier junge Leute, darunter viele Asiaten.
    Alice hatte einmal davon erzählt, wie begeistert sie gewesen sei,
als sie zum erstenmal die Leith Central Station zu Gesicht bekommen hatte, doch
der frühere Bahnhof war mittlerweile die Central Bar, wo Jacks Schwester Flöte
spielte. Noch bis Anfang der Achtziger seien dort Stripperinnen aufgetreten,
sagte Rory. Es war Nachmittag, als Jack ins Central hineinschaute;
Stripperinnen waren keine zu sehen. In der Musicbox lief Frank Sinatras »My
Way«. Zigarettenrauch verschleierte die gekachelten Wände und länglichen
Spiegel und ließ die üppigen Ornamente der hohen viktorianischen Decke kaum
erkennen.
    Ecke Constitution und Bernard Street befanden sich eine Bank und
allem Anschein nach eine Reederei. Auf einer Brücke überquerten Jack und Rory
das Water of Leith und gelangten zum Dock Place. Jack erinnerte sich an das
Lied, das seine Mutter gesungen hatte – allerdings nur, wenn sie betrunken oder
bekifft gewesen war –, das Lied, das er zum erstenmal in Amsterdam von ihr
gehört hatte. Es war das Mantra seiner Mutter, hatte er damals gedacht –
niemals eine Hure zu sein.
     
    [1011]   Nie werd’ ich eure Süße
Für ’nen schnöden kleinen Schein,
Und schlimmer als am Dock Place
Kann’s nur im Kittchen sein.
Nie werd’ ich eure Kleine sein
Und nie am Dock Place steh’n,
Ihr sollt mich nicht im Kittchen
Und nicht als Hure seh’n.
    Jacks schottischer Akzent war etwas eingerostet, aber er sang
das Lied Rory vor. Der sagte, er habe es noch nie gehört. Dock Place machte,
jedenfalls auf Jack, nicht den Eindruck, als wäre es besonders schlimm, hier zu
landen. (Wenn es hier überhaupt je Huren gegeben hatte, dann waren sie
weitergezogen.)
    Rory fuhr Jack zum Balmoral zurück, wo dieser eine Siesta hielt. Sie
dauerte zwar nur zwei, drei Stunden,

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