Bis ich dich finde
reichte aber aus, um den Jetlag
abzuschütteln. Nach dem Essen im Hotel ging er hinaus auf die Princes Street
und ließ sich vom Doorman einen guten Pub in Leith empfehlen. Er wollte keinen
Alkohol trinken, hatte aber Lust, in der undefinierbaren Atmosphäre des
Geburtsortes seiner Mutter in aller Ruhe ein Bier zu konsumieren. (Vielleicht
wollte er sich so fühlen wie sein Großvater Aberdeen Bill.)
Der Doorman empfahl zwei Lokale, die beide sehr nahe beieinander in
der Constitution Street lagen. Jack nahm ein Taxi und bat den Fahrer zu warten
– er war sich sicher, daß er nicht lange brauchen würde. Das Port o’ Leith, in
das er zuerst ging, war klein und stark frequentiert. Das Publikum war sehr
gemischt. Neben den offensichtlichen Stammgästen – Einheimische,
Alteingesessene – gab es Seeleute auf Landgang und junge Studenten, die ihr
erstes Bier tranken. (Das gesetzliche Mindestalter lag bei achtzehn, was hier
offenbar sechzehn bedeutete.)
Die Decke war ein Mosaik aus Flaggen, an den Wänden [1012] hingen Bänder
von Matrosenmützen und Rettungsringe von Schiffen. Den Spiegel zierte ein
Aufkleber mit der Aufschrift FINGER WEG VON LEITH .
Die Bedienung erklärte Jack, daß es sich um ein politisches Anliegen handele,
eine Reaktion auf das unpopuläre Vorhaben, Leith in »North Edinburgh«
umzubenennen.
Er lehnte die angebotenen Bar-Snacks – darunter auch eine
Spezialität namens »Schweinegrieben« – ab und trank ein schottisches Stout.
Ein Stück weiter die Straße entlang lag ein höhlenartiger
viktorianischer Pub namens Nobles Bar. Das Nobles war so leer, wie das Port o’
Leith voll gewesen war, doch es hätte selbst mit dem Publikum des Porth o’
Leith vergleichsweise leer gewirkt. Frauen waren keine anwesend, nur ein
knappes halbes Dutzend unglücklich wirkender Männer: zusammengekniffene Augen,
teigige Gesichter, Nasen unterschiedlichster Art. Jack schwankte, ob er ein
Newcastle Brown Ale oder ein Getränk namens Black Douglas bestellen sollte. Im
Grunde spielte es keine Rolle, denn er wußte, daß er weder das eine noch das
andere austrinken würde. Er konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal
in einer Bar gewesen war und niemand ihn erkannt hatte: nun war ihm das am
selben Abend schon zum zweiten Mal passiert.
Ins Balmoral zurückgekehrt, trank er an der Bar ein Mineralwasser.
Dort lief gerade Bob Dylans »Lay, Lady, Lay«. Der alte Song, den er einmal
gemocht hatte, überrumpelte ihn. Er hatte sich von seiner Mutter verabschiedet,
ohne im entferntesten zu ahnen, daß nichts in Edinburgh, ihrer Geburtsstadt,
sie zum Leben erwecken würde – jedenfalls nicht so, wie es Bob Dylan jederzeit
gelang.
»Sind Sie zum Festival hier, Mr. Burns?« fragte ihn der Barkeeper.
»Meine Mutter ist hier geboren«, sagte er. »Ich habe mich ein
bißchen in ihrem alten Viertel, in Leith, umgesehen. Und meine [1013] Schwester
wohnt hier. Morgen treffe ich sie.« Er fügte nicht hinzu: »Zum ersten Mal!«
Er hatte mit Heather vereinbart, sie am anderen Morgen in einem
Café namens Elephants and Bagels am Nicolson Square zu treffen. Es war weniger
als zehn Minuten zu Fuß von seinem Hotel entfernt und lag ganz in der Nähe
ihres Büros in der Universität. Die Büros und Übungsräume der Musikhochschule
waren im Alison House am Nicolson Square untergebracht.
Jack ging die North Bridge entlang über den Rangierbahnhof der
British Rail. Er kam am Festival Theatre, dem großen Glasgebäude in der
Nicolson Street, vorbei und bog nach rechts auf den Nicolson Square ein. Wie
üblich war er zu früh dran. Im Elephants and Bagels setzte er sich an einen
Tisch in Türnähe und bestellte sich einen Becher Kaffee. Auf einer Werbetafel
für das Café stand: DIE BESTE KUR FÜR EINEN KATER IN
EDINBURGH .
Die Wände waren hellgelb gestrichen. In den Fenstern standen
Pflanzen, und es gab eine Vitrine voller Elefantenfigürchen: Elefanten aus
Stein, bemaltem Holz, Ton und Porzellan. Ein dicker, runder Stützpfeiler war
über und über mit Kinderzeichnungen bedeckt – Vögel, Bäume, noch mehr
Elefanten. Das Café hatte die pädagogische und zugleich verspielte Atmosphäre
eines Kindergartens.
Als Heather hereinkam, bemerkte Jack zunächst keine Ähnlichkeiten.
Wie ihre deutsche Mutter hatte sie kurzes blondes Haar, doch ihre braunen Augen
und scharfgeschnittenen Gesichtszüge waren die von Jack oder William, und sie
war zugleich schlank und kompakt – so klein und durchtrainiert wie ein Jockey.
Die
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