Bis in den Tod hinein
Castella das Foto ihres Mannes kürzlich auf eine andere Position gerückt hatte. Hatte es zuvor noch rechts von ihrem Computermonitor gestanden, war es jetzt auf die linke Seite versetzt worden.
Rechts vom Rechner steht ihr Telefon. Immer, wenn sie es benutzt, sieht sie unwillkürlich sein Bild. Auf die linke Seite fällt ihr Blick viel seltener. Die beiden haben wieder gestritten, aber sie will nicht, dass wir das merken. Deswegen hat sie das Bild nicht ganz entfernt.
» Aber das ist Unsinn! Ich soll Sie unmittelbar vor der Ergreifung dieses Irren einfach nach Hause schicken?«, entlud es sich jetzt aus der zierlichen Frau, und es war sogar für den Staatsanwalt am Telefon erkennbar, dass sich eine Portion privaten Ärgers in diese Aussage gemischt hatte. » Und was, wenn sich Jack in dieser Zeit aus dem Staub macht?«
» Das wird er nicht«, stellte Boesherz ohne Zweifel in der Stimme fest. » Dieser Fall ist wie ein Bausatz. Ich habe einen großen Karton, in dem ich in den vergangenen Tagen Einzelteile gesammelt habe, die für sich genommen kein Bild ergeben. Ich muss sie jetzt zusammenfügen, und das tue ich nach meiner Methode. Allein und ohne Telefon. Und bitte: Erzählen Sie niemandem von unserem Gespräch!«
» Was Sie sich da vorstellen, geht nicht«, erklärte der Staatsanwalt nun energisch.
» Es geht nicht?«, wunderte sich Boesherz. » Ich teile Ihnen mit, dass ich Jack bis heute Abend verhaften werde, und Sie kommen mir mit einem Spruch, den man sonst nur von Chargen hört, die für irgendwelche Agenturen die Facebook-Seite betreuen?«
» Also gut«, kürzte Castella ab, um endlich zu einem Ergebnis zu kommen. » Die Ermittlungen laufen ganz normal weiter. Sie, Severin, bekommen jetzt von mir frei. Es ist nicht meine Aufgabe, Sie in Ihrer Freizeit zu kontrollieren, also tun Sie alles, was Sie nicht lassen wollen. Aber denken Sie immer an eins: Wenn Sie Mist bauen, dann können Sie in den nächsten zehn Jahren die Facebook-Seite des LKA betreuen! Haben wir uns verstanden?«
Boesherz reagierte auffallend ungerührt.
» Definieren Sie Mist«, forderte er seine Vorgesetzte auf.
» Das übernehme ich!«, brachte sich der Staatsanwalt an dieser Stelle ein. » Mist ist alles, was nicht dazu führt, dass ich dem Innensenator noch heute von Jacks Ergreifung berichten kann.«
Kommentarlos griff Boesherz seine Unterlagen, zog die Fernbedienung seiner Standheizung aus der Tasche, aktivierte sie und nahm schweigend zur Kenntnis, was der Staatsanwalt seinen Worten hinzufügte.
» Im Umkehrschluss bedeutet das: Sind Sie erfolgreich, dann wird es in meiner Abteilung niemanden interessieren, wie Sie es angestellt haben. Also, Boesherz: Schnappen Sie sich den Mistkerl!«
49
» Ich hoffe sehr, ich komme nicht unpassend. Ich möchte keine Umstände bereiten«, entschuldigte sich Anselm bei seiner Kollegin, die ebenso überrascht von dessen unangemeldetem Besuch war wie Anselm am Tag zuvor von ihrem.
» Nein, äh, das ist schon in Ordnung«, entgegnete Sonja, doch ihre Körpersprache drückte das genaue Gegenteil aus. » Geht es um den Artikel, den ich Ihnen gemailt habe?«
Anselm versuchte einen Blick in das Haus seiner ungeliebten Kollegin zu erhaschen. Es schien niemand außer ihr da zu sein.
» Darf ich?«
Sonja, die an ihrem freien Tag nur mit einem Trainingsanzug bekleidet und weder geschminkt noch frisiert war, wusste nicht recht, wie sie sich verhalten sollte. Einerseits war Anselm Drexler vermutlich der letzte Mensch auf Erden, den sie in ihre Wohnung bitten wollte. Andererseits konnte sie ihn auch nicht einfach abweisen.
» Natürlich«, gab sie daher nach. » Kommen Sie rein.«
Sonjas Wohnung sah in etwa so aus, wie Anselm sie sich vorgestellt hatte. Ein buntes Sammelsurium von Erinnerungsstücken an längst vergangene Urlaubsreisen, Rendezvous oder Familienfeiern füllte die Regale in Form von Fotos, Tassen oder ähnlichen Memorabilien. Auf dem Küchentisch, an dem Wendorff ihr Frühstück zu sich genommen hatte, stand noch der gelbe Teller aus dem Service, das sie, wie den Großteil ihrer Einrichtung, in einem schwedischen Möbelhaus erworben hatte. Ausgelesene Zeitschriften und Bücher waren zudem überall in der Wohnung verteilt.
» Eigentlich geht es mir nicht um den Artikel von gestern. Eher um Ihre Arbeit im Allgemeinen«, erklärte Anselm, der seine vom Schnee angefeuchteten Stiefel ohne Aufforderung an der Haustür ausgezogen hatte und nun auf Socken vor Sonja stand. » Sie haben
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