Bis in den Tod hinein
Es gibt nur wenige Frauen, die so sind, wie ich es mir vorstelle. Deswegen konnte ich auch nie eine Familie gründen. Sie wäre einfach nicht perfekt gewesen.«
Sonja spürte, wie ihr ein kalter Schauer den Rücken hinablief. Weswegen, so fragte sie sich nun immer drängender, war Anselm Drexler wirklich zu ihr gekommen?
» Ich muss mich jetzt verabschieden«, fuhr dieser zu ihrer Erleichterung fort. » Im Fadenkreuz wird man mich übrigens nicht mehr sehen. Ich hatte heute meinen letzten Arbeitstag.«
» Davon wusste ich ja gar nichts.«
» Keiner wusste davon. Mein Vater wird sehr bald tot sein, und ich habe einfach keinen Nerv mehr, über jedes einzelne falsche Wort zu streiten. Jeden Grammatikfehler wieder und wieder aus unsäglichen Schriftstücken herauszufiltern und nebenbei mit anzusehen, wie unsere Gesellschaft den Bach runtergeht. Eigentlich war es ja schon von meiner Geburt an klar, aber es musste wohl erst das mit meinem Vater passieren, bevor ich es merke. Bevor ich mir darüber klar werde.«
Jetzt, zum ersten Mal seit mehreren Minuten, hatte sich etwas bei Anselm geregt. Er hatte seine rechte Hand um einige Zentimeter nach innen gedreht.
» Worüber sind Sie sich denn klar geworden?«, fragte Sonja, die noch immer gebannt zu ihrem Gast sah.
» Ich habe Ihnen etwas mitgebracht«, antwortete dieser und griff in die linke Innentasche seines Mantels. » Ein Abschiedsgeschenk.«
Noch immer gespannt sah Sonja mit an, wie Anselm einen Zettel entfaltete. Und auch wenn ihr dieses Detail schon an der Tür ins Auge gefallen war, fragte sie sich in diesem Augenblick dennoch zum ersten Mal, aus welchem Grund ihr Gast eigentlich eine Polaroidkamera um den Hals trug, bevor dieser schließlich vorlas, was auf seinem Zettel geschrieben stand.
» Sollst du stets, Junge, beachten, was war!
Die Regeln der Väter sind recht ganz und gar.
Seit jeher gehütet, verteidigt mit Blut,
Vom Vater zum Sohne getragenes Gut.
Denn weißt du, mein Junge, was denen geschieht,
die den Regeln nicht folgen? Dann blick, was man sieht:
Sonja war eine, der fehlte die Lust,
zu befolgen und achten, was die Väter gewusst.
Sie tat, was sie wollte, ehrte nicht das Gebot.
Trug nicht weiter das Wissen, nun sieh ihre Not:
Mit der Kehle verdreht wurd’s für immer ihr Nacht.
Drum denk dran, mein Junge: Befolge die Acht!«
50
Turandot, die letzte Oper Giacomo Puccinis, erfüllte kraftvoll und in kristallklarem Surroundsound die Wohnung. Severin Boesherz hatte seinen Anzug, seine Krawatte und seine Weste samt der Taschenuhr darin abgelegt, seine Pistole im Waffenschrank eingeschlossen und sein Handy ebenso wie sein Festnetztelefon ausgeschaltet. Alles, was er noch am Leibe trug, waren eine graue Sporthose ohne Muster oder Ziernähte sowie ein schlichtes weißes T-Shirt. Er saß, die Beine hochgelegt, auf seiner Couch und sah auf die Wand, an der er zwei Regale hatte anbringen lassen, auf denen lediglich ein paar dekorative Accessoires drapiert waren. Die Ordnung, die Olivia bei ihrem Besuch als offensichtlichstes Kennzeichen seiner Wohnung verstanden hatte, bot dem Kommissar genau die Umgebung, die er jetzt benötigte. Während die Oper, in der es um eine Prinzessin ging, die jeden Menschen enthaupten ließ, der nicht imstande war, ihre Rätsel zu lösen, seine Gedanken fließen ließ, bot ihm der Duft des Quercus in seinem Glas die Inspiration dazu, seine Ideen so lange vor seinem inneren Auge umherkreisen zu lassen, bis sie Stück für Stück auf ihrer jeweils richtigen Position gelandet sein würden.
Boesherz hatte zuvor den Bericht gelesen, in dem der Arzt, der Steve Moldenhauer versorgt hatte, detailliert über die Selbstverstümmelung berichtete, die Jack allem Anschein nach Inspiration für seine Tat gewesen war. Er hatte sich noch einmal die Bilder der Leichen und der Tatorte angesehen und über die seltene Schusswaffe nachgedacht. Alles, was während der vergangenen Tage auf seinen analytischen Verstand getroffen war, hatte er gedanklich umgewälzt und es dabei so lange in Wallung versetzt, bis der daraus entstandene Fluss schließlich seine eigene Dynamik entwickelt hatte.
Wieder sah er sein Rendezvous mit der Internetbekanntschaft vor sich, bei dem er die Geschichte von Pierre la Maire erzählt hatte. Das Öl an den Händen des Fassadenkletterers, den dicken Mann mit dem Hund, der in der Sportsbar vor dem Fernseher gesessen hatte, den Abend mit Linda im Musical, das Gipsbein von Olivia und das Lächeln von Armando,
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