Bis ins Koma
dafür hasst Marvel seinen Vater, dass er das alles ausbaden musste, während der Vater sich mit seiner Zweitfamilie amüsierte. Er konnte nicht sagen: Mama, hör auf! Red mit deiner Freundin über das Zeug, nicht mit mir! Er wollte der große, starke Kerl sein, den sie sich an ihrer Seite wünschte. Er hat getan, was er konnte. Mehr ging nicht.
Er versteht seine Mutter ja. Er weiß ja, warum sie ihn am liebsten an seinem Schreibtisch sieht, beim Büffeln.
Außerdem hat sie keine große Meinung vom Fernsehen. Die meisten Programme sind ihr ein Graus. Sie sagt immer: »Niveau ist keine Hautcreme.« Den Satz hat sie von Bully. Ihr Lieblingssatz. Dann schnappt sie sich von dem Bücherstapel, der jetzt immer auf dem Couchtisch liegt, das erstbeste Buch und verschwindet damit in ihrem Zimmer.
Wieso sollte also ausgerechnet eine Mutter wie sie sich über seine Einladung zum Casting freuen? Sie würde ihn mit Fragen nerven, auf die er auch keine Antwort hat.
Wie er sich das überhaupt vorstelle, jetzt, in der neunten Klasse, wo es um die Mittlere Reife geht und den Übergang zur Oberstufe. Ob er denkt, er könne einfach blaumachen?
Und um wie viele Tage pro Monat gehe es überhaupt? Wie viel Stoff würde er versäumen und aufholen müssen?
Und was mit den Arbeiten sei, die an Drehtagen geschrieben werden? Könne er die nachschreiben?
Außerdem gebe es doch so etwas wie Schulpflicht! Man könne doch nicht einfach hingehen und sagen: Ey, ich möchte lieber an ein paar Tagen in der Woche schauspielern, ihr kommt doch ohne mich klar, oder? SCH U LPFLICHT, mein Lieber, würde sie sagen, ist gesetzlich verankert.
Und dann hätte seine Mutter noch eins draufgesetzt. Er hört sie förmlich, wie sie scheinheilig fragt: Wieso glaubst du überhaupt, dass du Talent hast? Hast du dich je in der Theater-AG engagiert?
Nein, hat er nicht.
Hast du je für eure Weihnachtsfeiern in der Schule ein Gedicht gelernt?
Nein.
Oder mal an Heiligabend ein Gedicht aufgesagt? … Schauspieler müssen endlose Texte auswendig lernen! Ausgerechnet du, hätte seine Mutter gesagt, der du dir nicht eine Gedichtzeile merken kannst! Der Gedichte hasst!
Das ist schlichtweg nicht wahr. Er hasst Lyrik nicht mehr als deutsche Grammatik. Im Gegenteil, es gibt sogar ein paar Gedichte, die er großartig findet. Sofort aus dem Stegreif könnte er die ersten Zeilen seiner drei Lieblingsgedichte zitieren. Zum Beispiel »Der Panther« von Rilke:
Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe
so müd geworden, dass er nichts mehr hält.
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe
und hinter tausend Stäben keine Welt …
Oder die »Sachliche Romanze« von Kästner:
Als sie einander acht Jahre kannten
(und man darf sagen: sie kannten sich gut),
kam ihre Liebe plötzlich abhanden.
Wie andern Leuten ein Stock oder Hut.
Oder »Im Nebel« von Hesse:
Seltsam, im Nebel zu wandern!
Leben ist Einsamsein.
Kein Mensch kennt den andern,
Jeder ist allein.
Ist doch nicht so, als wenn er sich nichts merken kann!
Als er in der S-Bahn auf dem Weg vom Studio zurück ins Zentrum ist und sein Handy klingelt und auf dem Display MAMA auftaucht, bekommt er doch einen heißen Kopf.
Er räuspert sich. »Hallo Mutter«, sagt er.
»Hi Großer«, antwortet seine Mutter fröhlich. »Wo steckst du?«
»In der S-Bahn.« Marvel schaut nach draußen. Sie fahren am Kanal entlang, die Weiden sehen aus, als würden sie bald grün werden. »Die Verbindung ist gleich weg!«, ruft Marvel. Er drückt das Gespräch schnell weg. Er muss erst nachdenken, ob er seiner Mutter von dem Casting erzählen soll.
Als er das Handy wegstecken will, kommt eine SM S von Bully: »WIE’S DIE LAGE?«
»NORMALE HÄRTE«, simst Marvel zurück.
»HASTE DEN JOB?«
»HA. HA.«
»BOCK AUF BIER?«
»A BA IMM A! JETZT GLEICH?«
»WANN SONST?«
Das kann nur heißen: Bully ist schon bei Onkel Herbie.
In der letzten Sekunde, bevor die Bahn in Mundsburg wieder anfährt, springt Marvel aus dem Zug. Er nimmt drei Stufen auf
einmal runter zu dem Platz mit dem McDonald’s, in dem er in den letzten Sommerferien gejobbt hat.
Der Bus wartet an der Haltestelle. Marvel muss einen Spurt einlegen. Als er aufspringt, gehen im gleichen Augenblick die Türen zu und der Bus schwenkt aus.
Marvel wird gegen eine Frau geschleudert, die einen Pekinesen auf dem Schoß hält. Der Hund trägt einen Umhang aus kariertem Stoff und quiekt wie ein Ferkel. Die Frau wirft Marvel einen empörten Blick zu und Marvel entschuldigt
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