Bis ins Koma
erwiderte seine Mutter. »Das Baby kommt im März.«
Marvel sagte nichts. Sein Gehirn zog sich zusammen wie eine Nacktschnecke, auf die man Essig träufelt. Es schmerzte.
»Ich muss los«, knurrte Marvel.
Seine Mutter folgte ihm bis zur Haustür. Er konnte ihren flehenden hilflosen Blick im Rücken spüren. Er ahnte, dass sie gleich wieder in Tränen ausbrechen würde, wenn er sich jetzt umdrehte und sie sah, dass es ihm auch schlecht ging. Deshalb drehte er sich lieber nicht um.
»Wir schreiben heute vielleicht Geschichte«, murmelte er. Den Vokabeltest hatte er komplett aus seinem Kurzzeitgedächtnis gestrichen. »Über Mumien und Konservierung und so.« Er wusste selbst nicht, wie er ausgerechnet auf Mumien gekommen war. In Geschichte nahmen sie nämlich gerade die Industrialisierung Lateinamerikas durch.
Vielleicht wollte er seiner Mutter sagen, dass er sich wünschte, sie würde so bleiben, wie er sie liebte. So fröhlich. So hübsch. Er war immer stolz auf seine schöne Mutter gewesen.
»Ich drück die Daumen«, sagte seine Mutter mit dieser feinen Stimme, die er vorher an ihr noch nie gehört hatte und die klang wie eine zu fest gespannte Gitarrensaite. »Du schaffst das.«
»Du aber auch«, sagte er. »Alles easy.«
»Ach Marvin«, flüsterte seine Mutter.
Er nickte. Ihm fiel ein, dass er den Hausschlüssel wieder vergessen hatte, und deshalb drehte er sich um. Nur deshalb musste er sehen, wie seiner Mutter die Tränen einfach nur so aus den Augen liefen, ohne dass sie versuchte, sie abzuwischen oder irgendetwas sonst gegen die trostlose Stimmung zu tun.
»Dein Vater schläft im Wohnzimmer. Auf der Couch«, schniefte sie.
Marvel hielt einen Augenblick inne. Seine Hand schwebte über der Schale mit den Haustürschlüsseln. Er warf einen Blick auf die Wohnzimmertür. Sie war verschlossen. Er drehte sich langsam zu seiner Mutter um.
»Ich will ihn nicht mehr in meinem Bett«, sagte seine Mutter. »Das verstehst du, oder?«
Marvel steckte den Haustürschlüssel ein, nahm seine Schultasche, und zog, ohne seine Mutter noch einmal anzusehen, die Haustür hinter sich zu.
Als er an den Tannen und den gefüllten Mülltonnen vorbei auf die Straße ging, dachte er zum ersten Mal, dass er imstande sein könnte, seinen Vater zu hassen.
2
M arvel erzählt seiner Mutter nichts von dem Casting. Nicht weil er vor seiner Mutter viele Geheimnisse hat. Er will sich einfach den Stress ersparen. Er weiß genau, wie sie reagieren würde: mit blankem Entsetzen. Marvels Mutter, die selbst nur die Realschule besucht hat - damals ihr eigener Entschluss, weil Schule ihr keinen Spaß machte, was sie später bitter bereute -, möchte für ihren Sohn einen richtig guten Start in die berufliche Karriere. Sie möchte, dass er sein Abi schafft, und zwar mit einem Notendurchschnitt, der ihm alle Uni-Türen öffnet. Marvels Mutter ist wie viele Mütter. Er soll später Arzt werden oder Rechtsanwalt, irgendwas, was Geld und Ansehen bringt. Sie will auch Marvels Vater beweisen, dass sie als alleinerziehende Mutter alles richtig macht. Dass Väter - mal abgesehen von der Zeugung eines Kindes - einfach überflüssig sind. Das ist Babsi Kellers größter Trumpf: dass sie den Sohn hat - und Sven Keller nicht. Marvel kann das manchmal sogar verstehen. Sie hat ja sonst alles verloren, woran sie früher hing. Selbst die gemeinsamen Freunde haben sich nach und nach von ihr abund dem Vater zugewandt. Er ist Journalist, er hat den interessanteren Beruf, er ist glücklich mit seiner neuen jungen Frau und er ist glücklicher Vater. Das macht wahrscheinlich mehr Spaß als mit einer gestressten, alleinerziehenden Mutter, die jeden Euro umdrehen muss.
Marvel war lange Zeit der einzige Vertraute seiner Mutter. Sie hat ihm Dinge erzählt, die er lieber nicht gehört hätte, hat sich ihm so verzweifelt und aufgelöst gezeigt, wie kein Sohn seine
Mutter sehen möchte. Hat ihm Geschichten über seinen Vater erzählt, die er bis heute nicht vergessen kann, auch wenn sie gar nichts mit ihm direkt zu tun haben. Babsi Keller hat ihren Sohn wie einen Ehemann-Ersatz behandelt, wie einen Bruder, einen Beichtvater. Marvel denkt manchmal, dass er später auch Psychologe werden könnte. Weil er so viel nachgedacht hat über Betrug und Verrat, Trennung und Verlust und was das alles mit einem machen kann.
Babsi Keller hat zu oft vergessen, wie jung ihr Sohn noch war, zwölf, und dass er quasi noch ein Kind war, als sie ihn mit ihrem Elend überschüttete. Auch
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