Bis ins Koma
Morgen nach Hause, um seine Schulsachen zu holen. Sein Schädel fühlte sich an, als wäre er mit nassem Zement angefüllt. Er konnte keinen klaren Gedanken fassen. Er wusste nur, dass er eigentlich nicht nach Hause wollte. Er hatte Angst davor, was ihn dort erwartete. Er hatte am Vorabend seinen Haustürschlüssel vergessen und er hatte keine Lust, seine Eltern aufzuwecken, geschweige denn einem von ihnen zu begegnen. Und schon gar nicht wollte er wissen, wie die beiden ihre Nacht verbracht hatten. Er wollte nur seine Sachen holen und weg.
Es hatte die ganze Nacht geregnet und die Temperaturen lagen um den Gefrierpunkt.
Marvel trug Jojos alten Anorak, der ihm an den Schultern zu eng war und die Ärmel zu lang. Die Farbe war die Mode von vorgestern. Mit diesem Teil würde er sich keinesfalls in der Schule blicken lassen. Das war schlimmer, als ohne Schulbücher zu erscheinen.
Alle Fenster des kleinen Einfamilienhauses - roter Klinker, mit blau lackierten Fensterrahmen - waren geschlossen und die Kellertür abgesperrt. Für das Garagentor hatte er keine Fernbedienung und selbst das Fenster im Gästeklo, das immer gekippt war, weil seine Mutter fand, dass es da muffelte, ließ sich nicht aufdrücken.
Von den Tannen, die das Grundstück zur Straße hin abschirmten, tropfte es in trostloser Monotonie. Spatzen mit nassem Gefieder zankten sich um einen trockenen Platz im Vogelhäuschen. Andere Vögel nahmen ein Bad in den eingebogenen Mülltonnen-Deckeln.
Marvel klingelte.
Er lauschte.
Im Haus schien alles ruhig.
Vielleicht pennen sie noch, dachte er. Vielleicht ist alles gut.
Er fragte sich nicht, wie alles gut sein kann, wenn ein Mann verheiratet ist, aber seine Geliebte ein Kind von ihm erwartet.
Er wollte es auch gar nicht wissen.
Im Haus war es komplett still.
Er klingelte noch einmal, dieses Mal länger. Als sich wieder nichts tat, lehnte er sich mit der Schulter gegen den Klingelknopf, die Hände vor dem offenen Anorak verschränkt. Sein Kopf dröhnte und er fror.
Minuten vergingen. Von den Tannen tropfte es. Die Spatzen zankten. Schließlich wurde es Marvel zu viel, er hämmerte mit den Fäusten gegen die Tür und brüllte: »Aufmachen! Mann!«
Da endlich ging oben im ersten Stock ein Fenster auf. Seine Mutter steckte den Kopf raus.
»Marvin?«, rief sie. »Bist du das?«
»Ich brauch meine Schulsachen!«, brüllte Marvel. »Ich hab keinen Schlüssel!«
Seine Mutter machte ihm auf. Sie schaute ihn nicht an, sie
trat einfach nur zur Seite. Sie hatte ein aschfahles Gesicht und komplett verweinte Augen, das konnte Marvel erkennen, auch ohne genau hinzusehen. In seinem Magen klumpte sich etwas zusammen und er hatte Angst, dass dieser Klumpen ganz schnell rauswollte.
Er stieg wortlos die Holztreppe hoch in den ersten Stock. Die Treppe knarrte bei jedem Schritt.
Die Schlafzimmertür war nur angelehnt.
Die Badezimmertür stand offen.
Marvel stieg schnurstracks hinauf in sein Mansardenzimmer, zog Jojos Anorak und den Pulli aus, riss ein frisches Sweatshirt aus dem Schrank, zog es über, raffte seine Schulbücher zusammen, stopfte sie in den Rucksack und machte sich auf den Rückweg durchs Haus.
Am Fuß der Treppe wartete seine Mutter. Sie wischte sich verstohlen die Tränen aus dem Gesicht. Sie wusste, dass er Tränen nicht ertrug. Im Kino waren Tränen okay, aber nicht im richtigen Leben. Das richtige Leben sollte easy und nett sein.
»Wo warst du heute Nacht?«, fragte sie. Ihre Stimme war dünn wie Seidenpapier. Es war, als raschele ihre Stimme, wenn sie redete.
»Bei Jojo.«
»Ah, hab ich mir fast gedacht.«
»Dann ist es ja gut«, sagte Marvel.
»Na ja, du hättest anrufen können«, sagte seine Mutter, »ich hab mir Sorgen gemacht.«
»Ich wollte nicht stören.«
Darauf erwiderte sie nichts. Vielleicht wartete sie darauf, dass er eine Frage stellte.
Zum Beispiel: Wie ist es gelaufen?
Oder: Ist Papa da?
Oder: Ist das wahr, was die Frau erzählt hat?
Aber er sagte lieber gar nichts. Er fürchtete sich vor jeder Antwort. Er fürchtete sich davor, dass seine Mutter etwas Endgültiges verkünden würde wie: Dein Vater ist ausgezogen.
Oder: Wir lassen uns scheiden.
Er wollte das nicht wissen. Er wollte sowieso, dass alles so blieb, wie es gewesen war. Dass diese Geliebte und ihr blödes Kind einfach wieder aus seinem Leben verschwanden.
»Sie heißt Caren«, sagte seine Mutter, als könne sie Gedanken lesen, »mit C.«
»Aha«, sagte Marvel. Und dann: »Es regnet.«
»Ich weiß«,
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