Bis ins Koma
Strom.
Frau Thieleke ist Mitte dreißig, groß und meistens gut gelaunt. Besonders deshalb ist sie zur Vertrauenslehrerin der Schule gewählt worden. Man glaubt ihr, dass sie ihre Schüler liebt. Oder sich wenigstens für die Sorgen und Nöte der Schüler wirklich interessiert. Wenn sie in eine neue Klasse kommt, schreibt sie als Erstes ihre Handynummer an die Tafel. Das macht kein anderer Lehrer. Außer Geschichte unterrichtet sie Sport und Musik. Komische Fächerkombination, findet Marvel. Er kennt keinen Sportler, der gleichzeitig eine musikalische Begabung hat und Klavier spielt oder Geige. In ihrer Freizeit, heißt es, trainiert Frau Thieleke eine Volleyball-Mannschaft, die gerade in die Bezirksliga aufgestiegen ist.
Frau Thieleke und Marvel verstehen sich gut. Frau Thieleke nennt das »gut zusammenarbeiten«. Sie übergibt Marvel gern ihre »Problemfälle«, wie sie das nennt. Immer ihm. Nur selten einem anderen aus dem Anti-Aggressions-Team. Das schmeichelt ihm.
»Hast du einen Augenblick Zeit für mich, Marvin? Es gibt da ein Problem.«
Marvel nickt. »Klar hab ich Zeit.«
Sie bleiben in der Fensternische stehen, von der aus man den Pausenhof überblicken kann. Frau Thieleke gehört zu den Menschen, die immer gern alles im Blick haben. Ihr entgeht so schnell nichts. Wenn sie Aufsicht hat, gibt es weniger Prügeleien.
Im Treppenhaus wird es allmählich still. Der Lärm vom Schulhof dringt durch die geschlossenen Fenster nur gedämpft zu ihnen hoch. Marvel denkt, dass Fische im Aquarium sich vielleicht so fühlen.
»Es geht um zwei Schüler aus der 7 a«, beginnt Frau Thieleke. »Ich unterrichte die Klasse in Geschichte. Eine tolle Klasse.«
Frau Thieleke findet ihre Klassen immer alle toll. Und sagt das auch den Schülern. Auch dafür wird sie geliebt.
Sie holt aus ihrem Lederbeutel eine Tüte mit Kräuterbonbons. Sie hält Marvel die Tüte einladend hin. »Magst du eins? Die sind lecker.«
Marvel findet Kräuterbonbons ziemlich eklig. Er lutscht so was nur, wenn er Husten hat, aber die Lehrer sind ja alle immer irgendwie erkältet und haben ein Kratzen im Hals, vom vielen lauten Reden. Lehrer lutschen immerzu Halsbonbons.
Marvel nimmt sich einen Kräuterbonbon, und während sie ihn aus dem Papier wickeln und in den Mund schieben, klärt Frau Thieleke ihn über den Fall auf.
»Ich wollte mit dir über Achmed und Kilian reden«, sagt sie. »Kilian ist dieser adipöse Junge.«
Marvel hat das Wort noch nie gehört. »Was ist das denn?«
»Kilian hat enormes Übergewicht. Ein Riesenjunge, sozusagen. Du hast ihn bestimmt schon gesehen. Er trägt eigentlich immer diesen grauen Trainingsanzug, mit Kapuze.«
Marvel nickt. Er weiß sofort, wen die Lehrerin meint.
»Kilian behauptet, dass er von einem Klassenkameraden gemobbt wird. Richtig schlimm gemobbt. Er wollte mir nicht sagen, was passiert ist, er druckst immer nur herum. Offenbar ist es ihm peinlich, vor mir als Lehrerin in irgendwelche Details zu gehen. Ich weiß ja, dass Jungen untereinander nicht zimperlich sind mit ihren Gemeinheiten, aber Kilian hat geweint. Er behauptet, Achmed wolle ihn fertigmachen.«
»Soll ich also mit den beiden reden?«
»Ja. Das wär nett. Vielleicht kriegst du mehr aus Kilian raus. Du weißt ja, dass ich es immer besser finde, wenn ihr Schüler das untereinander regelt. Willst du mit den beiden reden?«
»Klar.«
Frau Thieleke legt ihm dankbar die Hand auf die Schulter. »Prima, Marvin. Hab ich dir schon gesagt, wie ich mich freue, dass du in dem Anti-Aggressions-Team arbeitest?«
»Ja. Haben Sie schon gesagt.«
Frau Thieleke lacht. »Gut. Macht nichts. Dann sag ich’s noch mal: Du machst deine Sache richtig gut!«
»Danke.«
Marvel ist eigentlich aus dem Alter raus, wo man sich über Lehrerlob freut. Aber er grinst trotzdem, als er den Weg in die Cafeteria fortsetzt.
Kilian ist nicht normal dick, Kilian ist fett. Er wirkt auf den ersten Blick wie eins von diesen aufblasbaren Michelin-Männchen, die über Reifendepots schweben. Seine Beine sind wie Säulen, die einen Koloss tragen müssen. Er geht x-beinig und er läuft mit offenen Turnschuhen herum, weil sie über seinen fetten Füßen nicht mehr zugehen. Man sieht Kilians Handgelenke nicht mehr, weil sie in Fettpolstern verschwinden. Er hat ein Doppelkinn, das zittert, wenn er aufgeregt ist, so wie jetzt, und man
muss sich anstrengen, wenn man zwischen den Fettwülsten, aus denen sein Gesicht besteht, seine Augen entdecken will. So wie er jetzt
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