Bis ins Koma
Marvel, »heute ist Frühlingsanfang.«
Marvel hört plötzlich die schrille, hohe Stimme von Bullys Mutter im Hintergrund. »Wo bleibst du denn?«
»Komm gleich!«, ruft Bully und zu Marvel sagt er: »Du, ich glaub, es geht heute nicht.«
»Was macht ihr denn?«, fragt Marvel.
»Familienabend«, sagt Bully. »Nur mein Dad, meine Mom und Emma.« Emma ist Bullys kleine Schwester.
Marvels Herz krampft sich zusammen. Er sieht dieses Bild vor sich: Sein Freund Bully inmitten der Familie um den runden Esstisch, über dem eine Lampe mit gelbem Schirm warmes Licht verbreitet.
»Dann viel Spaß«, knurrt er und legt auf.
Er könnte jetzt einfach zurück nach Hause fahren, die Wodkaflasche wieder verstecken und das Ganze auf später verschieben. Aber zu Hause wartet keiner auf ihn, keiner, der ihm zuhören würde, wie er Geschichten aus dem großen Leben der Filmstudios erzählt.
»Kein Schwein hört mir zu!« Wütend schlägt er auf das Lenkrad ein, als könne das etwas für seine miese Stimmung. »Keine Sau interessiert sich für mich!«
Okay, er könnte sich zu Hause vor die Glotze werfen. Aber auf Fernsehen hat er irgendwie keinen Bock.
Na ja. Er könnte auch einfach ins Bett gehen, ihm fehlen sowieso einige Mützen Schlaf. Er könnte sich die Decke über die Ohren ziehen und pennen, damit er morgen fit für die Mathearbeit ist.
Oder noch Mathe üben?
An so einem Abend? An dem Abend, an dem er und seine Mutter einen Darstellervertrag für eine Soap unterschrieben haben, die ab Herbst ausgestrahlt wird und wo er pro Drehtag 180 € kassiert? Diesen wichtigen Tag einfach so verpuffen lassen wie alle anderen öden, trostlosen Tage zuvor?
Das kann nicht sein Ernst sein.
Es ist zehn Uhr oder vielleicht elf und stockdunkel. Von seinem Platz unter der Brücke kann er eine Häuserzeile sehen, da ist noch fast jedes Fenster erleuchtet. Was die Leute alle so machen, abends um elf, in ihren Zimmern?
Er schraubt die Flasche wieder auf und setzt sie an die Lippen.
Das war die einzige Bewegung in der letzen Stunde: Flasche aufschrauben, Flasche an den Mund setzen, trinken, Flasche wieder zuschrauben. Es ist langweilig. Es ist so still.
Er trinkt lieber in Gesellschaft, mit lustigen Leuten wie Mauki und so, die immer mehr in Fahrt kommen, je mehr Alkohol sie intus haben. Und die echt geile Sprüche draufhaben, sodass man was zu lachen hat. Lachen befreit. Lachen tut gut, das lockert die Gesichtsmuskeln. Kein Mensch kann immer nur cool sein. Aber wenn die Typen ihn alle im Stich lassen …
Wie viele von denen da in den hell erleuchteten Zimmern wohl gerade heulen, weil sie ihren Job verloren haben oder weil es Zoff in der Familie gegeben hat?
Er trinkt und stellt sich vor, wie die Kinder in den Zimmern die Decke über den Kopf ziehen, damit sie nicht hören, wie sich im Nebenzimmer die Eltern ankeifen. Er kann praktisch hören, was die sich gegenseitig an den Kopf werfen, wie Glas zersplittert, Türen schlagen, ein Auto wegfährt. Er stellt sich vor, wie die Leute es sich vor dem Fernseher gemütlich gemacht haben und
darauf warten, dass sie dort das bessere Leben serviert kriegen. Mehr Glück, mehr Frieden, mehr Abenteuer, mehr Action …
Bald tauch ich da auch auf, in eurem Wohnzimmer, denkt er. Trinkt. Wischt sich mit dem Handrücken über den Mund. Grinst. Eines Tages besuch ich euch alle zu Hause. Jetzt sitz ich noch hier unter der Brücke. Ihr seht mich nicht. Und wenn ihr mich sehen würdet, wär es euch egal. Aber bald kennt mich jedes Kind!
Er sitzt unter der Brücke, das Wasser schwappt träge gegen die feuchten Brückenpfeiler. Enten, den Kopf in den Federn, lassen sich auf dem trüben Wasser treiben. Sie schlafen schon. Vielleicht auch nicht. Vielleicht haben sie ein Auge halb geöffnet und gucken ihm zu, diesem Typen mit seiner Wodkaflasche, der da auf dem Stein hockt und trinkt und redet. Als wäre jemand da, als höre ihm jemand zu.
Er trinkt, schwenkt dann die Flasche wie einen Preis, wie einen Fernsehpreis.
»Danke! Ich danke euch allen! Und ganz besonders dir, Mom!«
Bei dieser Vorstellung rollen Marvel Tränen über das Gesicht.
Diese Leute im Studio, denkt er, waren gut. Dieser Hotte war gut, die Regisseurin war gut, der Kameramann. Was hat der noch gesagt über seine Bildschirmpräsenz? Niemand hat ja wirklich gewusst, wer er eigentlich ist und was aus einem wie mir werden kann, wenn man ihm eine faire Chance gibt.
Ha! Wenn sein Vater das wüsste, dass er mit Leuten wie Horst Burckhardt
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