Bis ins Koma
anders.
Alles.
Papa.
Hörst du?
ALLES WIRD ANDERS!
Verdammt, warum kannst du nicht einmal sagen, dass du mir zuhörst? Wieso hast du mir nie zugehört? Wieso hat dich nie interessiert, was ich mal machen will, was ich mal werden will, was für Träume ich habe, was für Pläne?
Du scheißt auf mich. Okay. Verstanden. Danke.
Ich muss hier weg.
Ich muss nach Hause.
Wo ist mein Bett?
Ich muss schlafen.
Ich bin fertig. Alle. Kaputt.
O scheiße, ist mir schlecht.
Kann mir mal einer hier hochhelfen? Das ist so glitschig hier.
In Hamburg regnet es zu viel.
Wird Zeit, dass der Klimawandel kommt und wir hier endlich Palmen pflanzen können.
Oh, scheiße, jetzt ist die Flasche ins Wasser gerollt.
Hey, wer seid ihr denn? Habt ihr noch was zu trinken für mich …?
6
H amburg, ein halbes Jahr später.
Es ist November, von der Nordsee wälzt sich ein Tiefdruckgebiet nach dem anderen mit Hagel und Sturm über die norddeutsche Tiefebene hinweg. Bei klarem Himmel gibt es nachts manchmal schon Frost, die Blätter fallen, das nasse Laub verstopft die Gullys. Wer nicht mit einem großen Satz aus dem Bus auf den Bürgersteig springt, kriegt automatisch nasse Füße. Die Tage werden grauer und kürzer, die Nächte scheinen gar nicht mehr aufzuhören. Die Menschen joggen nicht mehr um die Alster oder am Elbufer entlang, sondern hocken vor der Glotze. Die Segelboote sind vertäut, die schönen Ruderboote aus Teakholz längst im Trockendock, der Schwanenvater hat seine Tiere ins Winterquartier gebracht und da stehen sie nun dicht an dicht, auf einem Bein, den Kopf in die Rückenfedern gekuschelt, und schauen trübsinnig vor sich hin.
Der November ist der perfekte Monat, um eine neue Fernsehserie zu starten, zum Beispiel: Coole Zeiten, die neue Soap von ProFive.
Nicht versäumen!
Die Presse ist groß eingestiegen. In jeder Zeitung Interviews mit den beiden Hauptdarstellern. Die Fernsehzeitschriften haben entweder Ronja aufs Cover genommen oder Franziska, ihre Filmmutter. ProFive hat seit Wochen schon Trailer geschaltet, um die neue Serie auf dem eigenen Sender zu bewerben. Kurze Szenenschnipsel aus einigen Folgen. Leider ist Marvel in diesen Trailern nie zu sehen gewesen. Auch auf den großen
Plakaten haben sie ihn verschwiegen. Seine Rolle ist eben zu klein.
Dann gibt es noch diese doppelseitigen Anzeigen in allen Tageszeitungen, BILD folgt Ronja auf Schritt und Tritt, berichtet über ihren neuen Lover, ein Fotomodell mit dem Gesicht eines Vorschlaghammers, oder verlost Gewinne an alle Leser, die wissen, dass der Titel der neuen Soap bei ProFive »Coole Zeiten« heißt.
Eine riesen PR-Maschine ist in Gang gesetzt worden, um dieses Produkt zu vermarkten, und Marvel steht staunend daneben. Was er im Studio erlebt hat, war schon spannend genug, aber nichts gegen das, was jetzt im Medienzirkus Deutschland passiert.
Der Hauptdarsteller wird zu »Wetten, dass …?« eingeladen, die Regisseurin sitzt beim »Kölner Treff« in der Talkshow und Ronja darf für BUNTE ihren Kleiderschrank öffnen und rauschende Abendkleider vorführen, als ginge es direkt zur Oscarverleihung nach Hollywood.
Ihn haben sie da rausgehalten. Marvel ist noch Schüler und seine Rolle war nicht groß genug. Aber sie haben die erste Folge so umgeschnitten, dass er bei der »Weltpremiere« - so kündigen die das bei ProFive großmäulig an - schon einen kleinen Auftritt hat: Er steht mit einem Kumpel an der Currywurstbude, und als er bezahlen will, stellt er fest, dass man ihm sein Geld geklaut hat.
Und deshalb hat Marvels Mutter beschlossen, am Freitag, wenn die erste Folge um 19.30 Uhr ausgestrahlt wird, eine kleine Party zu geben. So eine Art Premierenfeier.
Sie hat dafür extra einen Flatscreen gekauft, einen sündteuren. Aber seine Mutter hat gesagt, wenn sie ihren Sohn im Fernsehen sehen kann, dann bitte auch auf einem perfekten Bildschirm. Der Flatscreen ist cool.
»Wertet die ganze Bude auf«, hat Marvel erklärt.
»Bude?« Seine Mutter war empört. »Für dich ist diese schöne Wohnung nur eine BUDE? Diese drei Zimmer sind unser Zuhause!«
Marvel hat das so durchgehen lassen, ohne Kommentar. Aber unter »Zuhause« versteht er irgendwie was anderes. Aber das ist schwierig zu erklären. Zu schwierig.
Es soll Prosecco, Bier, Wein, Wasser, Cola und ein italienisches Antipastibüfett geben, woran seine Mutter zwei Nachmittage lang gebastelt hat.
Seine Mutter hat vorgeschlagen, er solle auch ein paar Leute vom Filmteam einladen, damit sie
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