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Bis ins Koma

Titel: Bis ins Koma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Blobel
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sie.
    Er wippt mit den Fersen. Das tut er immer, wenn er nervös ist. Er weiß, dass seine Mutter das weiß. Also würde er gern damit aufhören, mit den Fersen zu wippen. Merkwürdigerweise geht das nicht.
    Ich muss noch viel üben, denkt Marvel.
    Seine Mutter nimmt die Klarsichtfolie, zieht einen der Bögen heraus, blickt Marvel abwartend an.
    »Mein Vertrag«, erklärt Marvel lässig. »Dreifache Ausfertigung. Ich hab schon unterschrieben. Unten links. Du musst unten rechts unterschreiben.«
    Seine Mutter lässt das Blatt fallen, als habe sie sich daran verbrannt.
    »Du hast schon unterschrieben?«, fragt sie fassungslos. »Ohne das mit mir abzusprechen?«

    »Ich weiß doch, dass ich es auf jeden Fall machen will«, sagt Marvel. »Wäre ich sonst zu dem Casting gegangen? Die rechnen mit mir. Was sollen wir da noch groß besprechen?«
    »Marvin! Hast du vergessen, wie alt du bist?«
    Marvel zuckt mit den Achseln.
    »Marvin!« Seine Mutter setzt sich neben ihn, nimmt wieder das Blatt in die Hand. »Du hast noch nicht einmal mit deinen Lehrern geredet! Das kann außerdem nur der Schulleiter entscheiden!«
    Marvin denkt, ich kann erst mal auch krankfeiern. Laut sagt er: »Mach dir keinen Stress. Warum sollte der Direktor was dagegen haben?«
    Marvel fällt plötzlich ein, dass er noch nicht für Mathe geübt hat. Ihm ist klar, dass morgen, wenn er die Aufgaben nicht hinkriegt, keinesfalls der richtige Moment ist, um mit dem Klassenlehrer zu reden. Ja, wenn er sicher wäre, eine gute Arbeit zu schreiben!
    Er springt auf.
    Seine Mutter schaut ihn verwirrt an. »Was ist denn jetzt?«
    »Wir schreiben morgen Mathe!«, ruft Marvel. »Ich muss mir noch ein paar Aufgaben angucken.«
    Seine Mutter folgt ihm in sein Zimmer, die Verträge in der Hand. »Das hier hat also Zeit«, sagt sie.
    »Nein! Mama! Verdammt! Das musst du unterschreiben!«
    »Und wenn ich es nicht tue?«, fragt seine Mutter.
    Marvel hat an seinem Schreibtisch Platz genommen. Er kramt in seiner Schultasche, wirft das Mathebuch und sein Heft auf den Tisch.
    »Du unterschreibst«, sagt er.
    »Und was macht dich so sicher?«
    »Das ist’ne Menge Kohle. Die können wir doch brauchen.«
    Marvel lässt die Schultasche auf den Boden fallen und dreht
sich zu ihr um. Seine Mutter lehnt in der Tür, in der Hand die Verträge. Sie messen sich wie Boxer beim Wiegen.
    Ich weiß, dass du unterschreibst, denkt Marvel. Du bist meine Mom, du bist der einzige Mensch, auf den ich mich je verlassen konnte. Was wir schon alles zusammen durchgestanden haben. Da ist das hier doch ein Witz. Du weißt, wie wichtig mir das ist, oder jedenfalls kannst du es dir denken. Du lässt mich nicht hängen. In meinem ganzen Leben hast du mich nie hängen lassen. Warum solltest du es ausgerechnet heute tun?
    Aber so wie seine Mutter ihn ansieht, kommen ihm doch Zweifel. Also steht er auf, nimmt sie in den Arm und küsst sie.
    »Mensch, Mama«, sagt er zärtlich, »nun muff doch nicht rum, nur weil ich dir vorher nichts gesagt hab. Ich wollte die Pferde nicht scheu machen, verstehst du? Wenn’s nicht geklappt hätte, wäre ich irgendwie in deinen Augen der Loser gewesen. Wär auch nicht gut.«
    Seine Mutter lächelt plötzlich. Sie streicht sanft mit den Fingerkuppen über sein Gesicht. Holt tief Luft. Seufzt. »Okay«, sagt sie, »wenn du versprichst, dass du das alles hinkriegst. Dass wir deswegen keinen Stress bekommen. Eigentlich bin ich ja richtig stolz auf dich, dass du das allein geschafft hast.«
    Marvel breitet die Arme aus. »Ich liebe dich!«, ruft er. »Du bist super!«
    »Liebe ist schön, Vertrauen ist besser«, sagt seine Mutter, während sie ihre Sachen für den Nachtdienst zusammenpackt. »Versprich es mir!«
    Marvin hebt die Indianerhand zum Schwur. »Ich versprech’s!« Und das meint er auch so.
     
    Er kniet sich in die Matheaufgaben, aber nur genau so lange, bis seine Mutter zur Nachtschicht muss und die Wohnungstür hinter ihr zufällt.

    Schon springt Marvel auf und wühlt aus seinem untersten Schrankfach, zwischen Socken und T-Shirts, eine Wodkaflasche hervor. Wodka macht keine Fahne. Er musste sich nicht mal groß bemühen, die Flasche zu verstecken, seit seine Mutter aufgegeben hat, sein Zimmer auch nur zu betreten. »Habt ihr etwa gedacht, die ist für euch? Irrtum, sagte der Hahn und stieg von der Ente.«
    Die Flasche ist noch originalverpackt. Er hat sie extra für einen besonderen Anlass aufgehoben. Und wann wäre so ein besonderer Anlass, wenn nicht

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