Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Bis ins Koma

Titel: Bis ins Koma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Blobel
Vom Netzwerk:
jede Szene Buch geführt wird: Wer welche Klamotten trägt, ob die Zigarette am Szenenende halb oder gar nicht geraucht, das Glas auf dem Tisch voll oder leer ist, die Vorhänge auf- oder zugezogen sind und der Held ein blaues Auge hat oder nicht. Alles wird notiert, damit der Anschluss dann stimmt und die Zuschauer nicht denken: He, vorhin war doch Tag und er hatte ein blaues Auge! Das ist nötig, weil die Szenen nicht immer streng chronologisch gedreht werden, sondern je nachdem, wie Hotte es kostengünstig errechnet hat.
    Marvel schwirrt der Kopf, aber er ist glücklich.
    Was ist Schule gegen so ein quirliges, lebendiges Leben wie hier! Wie öde ist das Hocken über Logarithmen, Lateinvokabeln und englischer Grammatik gegen diese Lebendigkeit hier! Das muntere Hin- und Her-Schulterklopfen und in den Armen liegen, diese Nervosität und Angespanntheit gleichzeitig, als stünden sie alle unter Strom, taten aber gleichzeitig so, als hätten sie den entspanntesten Urlaub ihres Lebens. Irgendwie verrückt. Aber schön. Marvel schwimmt im Glück.
    Auch noch, als er längst wieder in der Bahn zurück nach Hause sitzt; in einer Klarsichtfolie, zusammengerollt in der Innentasche seiner Jacke, die Verträge.
    Das rothaarige Sommersprossenmädchen mit den Fellstiefeln, das ihm auf der Bank gegenübersitzt, liest in einer BRAVO. Lange betrachtet sie das Foto eines Typen, der Marvel irgendwie vage bekannt vorkommt, wenngleich ihm weder einfällt, wie der Typ heißt, noch warum er so berühmt ist, dass er in die BR AVO kommt. Sie blättert um und da ist der Typ noch mindestens fünfmal. Jetzt sieht Marvel auch, dass er hinter einem Schlagzeug sitzt. Aha, ein Musiker. Aber was ist ein Musiker gegen einen Schauspieler! Hotte hat gesagt, dass sie eine Zuschauerquote
von mindestens 15 Prozent anpeilen. »Das sind auf einen Schlag pro Folge mehr als vier Millionen Leute«, hat Hotte erklärt. »Und vielleicht werden das alles deine Fans!«
    Am liebsten würde Marvel zu dem Mädchen sagen: Ey, guck her! Her zu mir! Schau hierher!! Vor dir sitzt ein leibhaftiger Star! Unsere Knie könnten sich berühren, so nah! Ich komme gerade aus dem größten Filmstudio von Hamburg! Und das hier in meiner Jackentasche ist mein Vertrag!
    Als habe sie ihn gehört, blickt das Mädchen plötzlich auf.
    Marvel rekelt sich ein bisschen in den Plastikpolstern und übt schon mal das Lächeln, das man draufhaben muss, wenn man Autogramme gibt. Aber die wasserblauen Augen des Mädchens sehen durch ihn hindurch, als sei er gar nicht vorhanden. Danach versenkt sie wieder den Blick in ihre BR AVO.
    Gut dass er an der nächsten Station aussteigen muss, aber er will der Situation noch einen kleinen Kick geben. So als wär’s schon Teil eines Filmes. Als er den Türöffner bereits gedrückt hat, geht er schnell noch einmal zurück, beugt sich zu dem Mädchen herunter und sagt: »Schade, du hast die Chance deines Lebens verpasst, einen echten Star zu treffen!«
    Als er, die Hände in den Jackentaschen, an dem S-Bahn-Waggon vorbei über den Bahnsteig geht, sieht er aus den Augenwinkeln, dass das Mädchen aufgesprungen ist und ihm nachstarrt, und er bereut, dass er keine Sonnenbrille besitzt. Als Erstes wird er sich von seiner Gage eine geile Sonnenbrille kaufen. Eine Markensonnenbrille, versteht sich. Porsche Design, Armani oder Calvin Klein. Drunter macht er’s nicht. Auch wenn dafür die Gage eines Drehtags draufgeht - das wäre es wert.
     
    Der harte Teil des Tages aber steht ihm noch bevor. Das ist das Gespräch mit seiner Mutter. Als er die Wohnungstür aufstößt, steht sie schon im Flur.

    »Na?«, fragt sie, bevor er noch seine Jacke aufhängen und die Verträge herausholen kann.
    »Alles klar«, sagt Marvel.
    »WAS ist klar?«
    »Ich bin drin«, sagt Marvel. »Ich habe die Rolle.«
    »Ach«, sagt seine Mutter, in einem Ton, der alles bedeuten kann: Überraschung, Respekt, Verzweiflung.
    Marvel wirft im Vorbeigehen einen kurzen forschenden Blick auf ihr Gesicht. Ihr Gesicht drückt gar nichts aus.
    Das muss man erst mal können, denkt Marvel, ein Gesicht zu machen, das gar nichts ausdrückt. So eine Art Pokerface. Er beschließt, genau dieses Pokerface als Erstes vor dem Spiegel zu üben. Vielleicht heute Abend, wenn seine Mutter schon im Bett ist. Dabei braucht er keine Zuschauer.
    Sie folgt ihm ins Wohnzimmer. Marvel wirft die Verträge lässig auf den Couchtisch, lässt sich aufs Sofa fallen, streckt die langen Beine von sich.
    »Was ist das?«, fragt

Weitere Kostenlose Bücher