Bis ins Koma
Punkten.
Während der Mathearbeit musste er zweimal aufs Klo. Er kann sich nicht erinnern, wann er zuletzt so viel gekotzt hat. Und wie eklig das war, mit dem kratzigen Klopapier den gallig gelben Schleim aufzuwischen. Gegessen hatte er ja nicht viel, sonst hätte die Kotze mehr Substanz gehabt. Das verdammte Klopapier hatte die Saugfähigkeit einer Qualle.
Und das Blöde war auch, dass er dieses Leid nicht mit seinen Kumpels teilen konnte. Geteilter Schmerz ist halber Schmerz. Mauki hätte ein paar Witze drüber gerissen und Jojo hätte eine detaillierte Schilderung seiner Gefühle bei totaler Trunkenheit abgegeben. Sie hätten was zu lachen gehabt und sich gegenseitig wieder aufgerichtet, wie das manchmal schon geschehen war. Erst groß Party machen und hinterher ablachen. Aber so? Nur das Elend eines einsam Besoffenen. An jenem Morgen auf dem Schulklo dachte er in einem seltenen Moment der Klarheit: Eigentlich bin ich dafür zu jung.
Bei der nächsten Arbeit jedenfalls hat er vorher keinen Tropfen Alkohol angerührt, sich auf den Hosenboden gesetzt und die Sechs wieder ausgebügelt: eine glatte Drei.
So auf und ab ging es in den meisten Fächern. Immer wenn er in einem Fach absackt, büffelt er auch schon mal eine Nacht lang durch für die nächste Arbeit. Und irgendwie hat das immer geklappt.
Jetzt steht er in allen Fächern zwischen 3 und 4, also keine Panik, dass er etwa nicht versetzt wird oder einen blauen Brief bekommt. Alles in ruhigen Gewässern. Wenn er sich auch steigern muss, um im Abi-Zeugnis einen Notendurchschnitt hinzulegen, der ihm den Weg an die Uni erlaubt. Allerdings hat er noch keine Ahnung, was er studieren will. Falls überhaupt.
Er ist auf jeden Fall froh, dass die erste Staffel im Kasten ist und nun endlich ausgestrahlt wird. So kehrt erst mal wieder Ruhe ein in seinen Schulalltag. Die Lehrer können sich beruhigen
und aus dem Direktorat kommen keine warnenden Mahnungen mehr.
Zur Premierenparty erscheinen Mauki und Bully wie immer in ihren schlurfigen Klamotten, aber Jojo hat ein weißes Hemd und ein Sakko an, das nicht aussieht wie die obere Hälfte vom Konfirmationsanzug, aus dem er rausgewachsen ist. Irgendwie richtig cool. Marvel kennt das Teil gar nicht.
Jojo hat für Marvels Mutter auch Blumen dabei, einen Strauß lila Herbstastern.
Marvels Mutter ist entzückt. »Ihr werdet ja richtige Kavaliere!«, sagt sie und küsst Jojo auf die Wange. Jojo wird feuerrot und die anderen tun, als wäre nichts. Das können sie am besten.
Es ist noch eine halbe Stunde bis zur Ausstrahlung und Marvel legt Musik auf, um die Stimmung zu lockern.
Die älteren Nachbarn haben im Wohnzimmer schon die besten Plätze belegt. Marvels Kumpel lungern etwas verlegen auf dem Flur rum. Marvel verteilt eine Runde Pils. Als Jojo seinen Flaschenöffner aus der Hosentasche zieht und dann die Flasche an die Lippen setzen will, sagt Marvels Mutter, die sich mit allem so viel Mühe gegeben hat: »Wir haben doch Gläser! Marvin, zeig deinen Freunden bitte, wo die Gläser stehen.«
»Auf dem Tisch«, sagt Marvel.
Aber Jojo, Mauki und Bully trinken ihr Bier seit Jahren aus der Flasche. Irgendwie finden sie, dass es aus Gläsern anders schmeckt, nicht mehr so frisch, so prickelnd. Irgendwie peinlich und spießig.
»Lass die Gläser man stehen«, sagt Jojo, als Mauki sich auf den Weg machen will. »Aus dem Glas schmeckt Bier, als wärst du plötzlich um Jahre gealtert. Wenn ihr versteht, was ich meine.«
Die anderen nicken bedächtig, Jojo spricht ihnen aus der Seele.
Marvel mustert seine Mutter, die hektisch zwischen Küche, Esszimmer und Wohnzimmer hin- und hereilt und dabei jedes Mal wenn sie durch den Flur kommt, Marvels Freunden ein Lächeln schenkt. Er findet, dass seine Mutter an diesem Tag endlich mal wieder richtig klasse aussieht. Sie hat einen neuen Haarschnitt und in dem neuen Kleid und den hochhackigen Riemchensandaletten könnte sie sofort in der nächsten Soap mitspielen.
Offenbar meint das auch ein gewisser DocMike, der seiner Mutter wie ein Schatten folgt, als habe er Angst, sie könne sich in Luft auflösen, wenn er mal eine Sekunde nicht in ihrer Nähe ist. Er folgt Babsi Keller von der Küche durch den Flur ins Wohnzimmer und bietet immerzu seine Hilfe an, obgleich es nichts mehr zu helfen gibt, denn das Büfett war schon vor Stunden aufgebaut, die Teller gestapelt, die Servietten gefaltet, das Besteck bereitgelegt.
»Sobald es losgeht«, hat Marvels Mutter gesagt, »will ich mich um
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