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Bis ins Koma

Titel: Bis ins Koma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Blobel
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nur im Vorbeigehen einen Blick und das ist auch besser. Er will gar nicht wissen, wie sein Vater mit seiner neuen Frau schläft. In welchem Bett und in welcher Bettwäsche.
    Das ehemalige Arbeitszimmer seines Vaters ist jetzt Sofias Zimmer. Gleich neben dem Schlafzimmer.
    »Praktisch«, sagt sein Vater, »denn kleine Kinder haben ja immer irgendwas.«
    Das Zimmer hat tatsächlich rosafarbene Wände. Lillifee überall. Das Bett ist weiß und überall sind Plüschtiere verstreut, Puppen und dazwischen ein knallroter Nachttopf.

    »Nach oben willst du sicher auch«, sagt sein Vater.
    Marvel zuckt mit den Schultern. Er ist nicht sicher, ob er sehen will, was sie aus seinem Zimmer gemacht haben. Es rumort in seinem Magen, als er hinter seinem Vater die schmale Treppe zur Mansarde hinaufsteigt. Er muss stehen bleiben, um sich verstohlen den Schweiß von der Stirn zu wischen. Es geht ihm nicht gut.
    Er weiß, dass er es nicht aushalten wird, egal, was sie mit dem Zimmer angestellt haben.
    Aber dann der Overkill: Marvin erwischt es kalt.
    Da hängt noch der Baseballhandschuh an der Wand, den sein Vater ihm damals aus Amerika mitgebracht hat, und daneben ein T-Shirt von den 99ers. Und dort im Schuhregal stehen seine blauen Nikes, bestimmt fünf Nummern kleiner als die, die er jetzt braucht. Und auf dem Bücherbord seine alten Schulhefte und Klassenbücher. Von Klasse 4 bis Klasse 6. Das Deutschbuch, das Mathebuch, in Folie eingeschlagen, die gelbe englische Grammatik. Ihm fällt plötzlich ein, dass genau in dieser englischen Grammatik noch die Kinokarte für den ersten Harry-Potter-Film stecken muss. Den Film hat er an seinem Geburtstag zusammen mit seinen Freunden gesehen. Danach waren sie alle bei McDonald’s. Und er hat zwei große Portionen Pommes gegessen.
    »Na?«, sagt sein Vater freundlich.
    Marvel nickt. Sagen kann er nichts.
    Sein Vater kippt das Fenster, als ahne er, dass Marvel frische Luft braucht. Früher hat er oft, die Arme hinter dem Kopf verschränkt, in seinem Bett gelegen und den Himmel über sich angeguckt.
    Was ihn richtig fertigmacht, sind die Bilder an der Wand. Fotos, gerahmt.
    Da ist das Foto, wie er im Wohnzimmer auf dem Teppich
liegt und seine erste Eisenbahn fahren lässt. Da ist das Foto, wie er sein erstes Fahrrad bekommen hat. Wie er Arm im Arm mit seinem Vater in einer Pizzeria sitzt und sein Vater ihm gerade ein Stück Salami von der Pizza stiehlt, als seine Mutter auf den Auslöser drückt.
    Ein Foto von Marvel in seinem Zimmer. Mitten in dem Chaos liegt er im Bett und liest. Und grinst fröhlich in die Kamera.
    Die Bilder hauen Marvel um. Er kann seinen Blick nicht von diesen Bildern abwenden. Wieso hängen die hier? Er kann sich nicht erinnern, wann er sich zuletzt ein Foto von früher angesehen hat. Er weiß nicht einmal, wo seine Mutter die Fotos aufbewahrt.
    Vielleicht hat sie ja gar keine mitgenommen. Vielleicht hat sie ja alles hiergelassen. Alles, was wehtun kann.
    Er weiß, dass er jetzt etwas sagen müsste, aber ihm fällt nichts ein.
    So ist es lange still.
    »Wir dachten«, erklärt sein Vater schließlich in diese Stille hinein, »wir lassen das Zimmer, wie es ist. Weil es ja immer noch dein Zuhause ist.« Er drückt die Tür zu dem kleinen Bad auf. Da hängt über der Duschwand Marvels altes Lieblingshandtuch, das weiße mit dem blauen Delfin. Das macht Marvel so fertig, dass er zurückweicht und sich an der Schreibtischplatte festhalten muss.
    Er hört, wie sein Vater sagt: »Ich habe ja lange Zeit gehofft, dass du kommst. Dass du auf meine Briefe antwortest. Dass du uns mal besuchst. Dass wir so etwas wie eine zweite Familie sein könnten. Caren hat sich das auch gewünscht. Ich hab so viel von dir erzählt. Ich hab mir ja lange Zeit eingebildet, dass du ebensolche Sehnsucht nach mir hast wie ich nach dir. Bis du dann auf einmal alle meine Geschenke zurückgeschickt hast.«
    Daran kann Marvel sich nicht erinnern. Will er auch nicht.

    Die Worte plumpsen in Marvels Magen wie Steine in einen Teich. Dein Zuhause! Familie. Sehnsucht!
    Marvel kann nichts sagen. Er wartet, bis sein Vater von sich aus begreift, dass es genug ist.
    Er möchte jetzt sofort gehen und sich irgendwo besaufen. Irgendwo, wo ihn niemand sieht. Ganz einsam für sich allein sein und ein Bier nach dem anderen in sich reinkippen. Bis er nichts mehr denkt und nichts mehr fühlt.
    Sie gehen die Treppe wieder nach unten. Im Erdgeschoss in der Diele steht Caren und hält einladend eine Flasche hoch. So kalt, dass

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