Bis ins Koma
das Kondenswasser daran herabperlt. Er schmeckt das Zeug schon am Gaumen. Wenn mich jetzt etwas rettet, ist es der Alkohol.
»Prosecco!«, ruft sie. »Hat jemand Lust?«
Und ob, denkt Marvel.
»Ich schon«, sagt Sven Keller fröhlich. »Aber der Sohn hier nicht. Der trinkt nämlich keinen Alkohol.«
»Oh«, sagt Caren.
»Ja, find ich gut. Macht mich sogar richtig stolz.« Sven Keller legt schon wieder seinen Arm um Marvel, so als wolle er an einem Tag alle Berührungen nachholen, die sie in den letzten Jahren versäumt haben.
»Ich nehm ein Wasser«, sagt Marvel.
»Ich hol’s dir.« Marvel hört, dass er pfeift, als er in der Küche den Kühlschrank öffnet.
»Da, wo ich herkomme«, erzählt Caren, »macht man den Apfelstrudel mit Zimtäpfeln und einem hauchdünnen Teig.«
Marvel könnte jetzt fragen, wo Caren herkommt, aber er will nicht zu viel Interesse zeigen.
Sie setzen sich an den Wohnzimmertisch.
»Und? Hast du eine Freundin?«, fragt Caren.
Offenbar finden fremde Frauen es normal, solche Fragen zu
stellen. Sie lächelt dabei ganz entspannt und rührt mit dem Löffel in ihrem Kaffee. Sie süßt ihren Kaffee mit Natreen, genau wie Miranda, die sich immer für zu dick hält. Wie komisch, denkt Marvel, dass Menschen, die nichts miteinander zu tun haben, doch auf irgendeine Weise ähnlich handeln. Und denken.
»Eine Freundin?«, wiederholt Marvel, um Zeit zu gewinnen.
»Ja, ein Typ wie du! Da stehen die Mädchen doch bestimmt Schlange!«
Und wieso seh ich die Schlange nicht?, denkt Marvel. Ihm fällt Miranda ein. Er hat sie seit dem Discoabend und dem Tag danach nicht mehr gesehen.
Eigentlich hatte er noch nie eine Freundin.
Caren scheint auf einmal zu spüren, dass sie ihm mit dieser Frage zu nahe getreten ist. Sie steht auf und macht eine Handbewegung, als wische sie den ganzen gedeckten Tisch weg, und sagt fröhlich: »Ach, egal. War nur so eine Frage. Ich hätte genauso fragen können, welchen Sport du am liebsten magst.«
»Das weiß ich«, mischt sich sein Vater ein, »das war Fußball und das wird immer noch Fußball sein, oder? Junior?« Er rubbelt Marvels Haare so wie früher und Marvels Kopfhaut zieht sich zusammen.
»Ja, stimmt.« Marvel grinst. »Das Runde muss in das Eckige.«
»Hacke, Spitze, trallala«, sagt sein Vater.
»Zieht den Bayern die Lederhosen aus!«
Beide müssen lachen.
Und obwohl er es gar nicht will, weil er so viel Nähe mit seinem Vater nicht aufbauen will, sagt Marvel noch, was sie immer sagten, wenn sie früher in der Südkurve nebeneinandersaßen und einem Heimspiel von FC St. Pauli zugeguckt haben: »Die Mannschaften kommen unverändert aus der Kabine.«
Marvels Vater lacht so, dass er sich die Tränen aus den Augen
wischen muss. »Das weißt du noch? Und was haben wir immer gerufen? Na?« Und beide brüllen wie aus einem Mund: »WIR WOLL’N EUCH KÄMPFEN SEHEN!«
Und dann sind sie auf einmal erschöpft oder erschrocken und sie hören gleichzeitig auf mit dem Gelächter. Die Stille, die folgt, ist dichter als vorher, anders.
Sie reden dann ein bisschen über die Chancen des HSV in der Champions League, über die Neueinkäufe von Bayern München - »dem Millionärsklub«. Marvel erzählt etwas von der Schule und dann fragen sie ihn nach der Fernsehserie.
»Ich bin stark beeindruckt«, sagt Caren. »Ich hab zu deinem Vater gesagt, dein Sohn hat Talent!«
Dein Sohn hat Talent! Dein. Sohn. Talent. Marvel lässt das sacken.
»Ich hoffe, die Serie wird fortgesetzt«, sagt Caren. Es klingt, als sei sie ehrlich interessiert. Um seinetwillen.
»Wird sie denn fortgesetzt?«, fragt sein Vater.
Marvel überlegt, ob sein Vater das nur fragt, weil er sich um den Unterhalt drücken will. Aber weil sein Vater so freundlich lächelt, antwortet er: »Es ist noch nicht entschieden, aber der Produzent rechnet fest damit.«
»Und? Bist du dann wieder dabei?«
»Die Regisseurin will. Aber einen Vertrag habe ich noch nicht.«
»Und was sagen die Lehrer?«
»Nicht viel«, sagt Marvel. »Sie haben es akzeptiert, aber toll finden sie es wahrscheinlich nicht.«
»Wieso nicht?«
»Ich bin in der Schule abgesackt.« Marvel wundert sich selbst, dass er so ehrlich ist und das zugibt.
»Und? Kannst du das wieder aufholen?«
»Ich denke schon. Ich muss halt ranklotzen.«
Marvel muss plötzlich an seine Mutter denken und was sie wohl sagen würde, wenn sie wüsste, dass er jetzt hier auf dem Sofa sitzt, mit seinem Vater und dessen neuer Frau, und Apfelstrudel isst,
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