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Bis ins Koma

Titel: Bis ins Koma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Blobel
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Missetaten, die ihm sofort wieder einfallen. Und das Türschild aus Messing mit dem Namen KELLER, schwarz eingraviert. Keller heißt er auch.

    Früher hat Marvel schon auf dem Weg durch den Vorgarten den Schlüssel aus der Hosentasche gezogen und gecheckt, ob Post gekommen ist oder ob die Mülltonnen schon zurückgestellt worden sind. Das war immer seine Arbeit gewesen.
    Jetzt muss er klingeln. Und irgendwie ist ihm das peinlich und er dreht sich um und guckt, ob die Nachbarn vielleicht gaffen. Die Nachbarn, die damals alles mitbekommen haben, den Streit und ihren Auszug und wie seine Mutter in ihrer ohnmächtigen Wut seinen Vater mit ihren Fäusten traktiert hat. Wie sie alle gegafft haben, einschließlich der Möbelpacker.
    Verstohlen hustet er in die Handfläche, um zu kontrollieren, ob sein Atem gut riecht. Der Taxifahrer hat ihm zu Fisherman’s Friend geraten. Das Zeug sei so scharf, das ätze jeden Alkohol weg.
    Plötzlich wird die Haustür aufgezogen und ein kleines Mädchen steht da, mit blonden Locken,Schmetterlingshaarspangen und Latzhosen, die groß genug für eine ganze Packung Pampers sind. Große wasserblaue Augen starren Marvel an. Sie legt den Kopf schief und lächelt vorsichtig. »Hallo.«
    »Hallo.«
    »Bist du mein Bruder?«, fragt das Mädchen.
    Marvel nickt. Er schluckt. Das Mädchen strahlt und umklammert sofort begeistert sein Hosenbein.
    »Ich heiße Sofia!«, sagt sie.
    »Hallo Sofia«, sagt Marvel. Irgendwas ist mit seiner Stimme nicht in Ordnung.
    Der Holztäfelung in der Diele entströmt immer noch dieser Geruch, der unzertrennlich mit seiner Kindheit verbunden ist. Der Geruch nach diesem Öl, mit dem das Holz glänzend gehalten wird und das den Holzwurm abhalten soll.
    »Mama! Papa! Er ist da!«, kreischt das Mädchen, ohne Marvel loszulassen.

    In der Diele ist es dämmrig und still.
    Sie haben das Kind vorgeschoben, denkt Marvel, weil sie feige sind.
    »Hallo?«, ruft Marvel.
    »Jahahaa! Komme!!!« Das ist eine helle Frauenstimme. Caren, denkt Marvel. Mit C.
    Sie kommt aus der Küche, sie trocknet ihre Hände an einem Geschirrtuch ab. Sie strahlt mit Sofia um die Wette.
    »Hab gerade den Kuchen aus dem Ofen geholt. Hallo Marvin. Ich freu mich.« Sie streckt ihm die trockene Hand hin. »Apfelstrudel. Ich hoffe, du magst so was.«
    »Strudel sind ihre Spezialität. Wird dir schmecken. Hallo mein Sohn.« Plötzlich ist auch sein Vater da. Kommt mit ausgebreiteten Armen auf Marvel zu. Sofia klebt immer noch an seinem Hosenbein und blickt anhimmelnd zu ihm hoch. Sie haben sie gedrillt, denkt Marvel, sie soll das machen, damit mir gleich klar wird, dass das meine kleine Schwester ist.
    »Schön, dass du gekommen bist, Junge«, sagt sein Vater warm. Er lächelt Marvel an.
    »Ja, klar. Logisch«, murmelt Marvel. Und denkt gleichzeitig: Was red ich für blödes Zeug? Wieso ist hier irgendwas logisch?
    »Und das also ist Caren«, sagt Sven Keller, während er sich von Marvel löst und seinen Arm um seine Frau legt. »Wird auch langsam Zeit, dass ihr euch kennenlernt.«
    »Hallo Marvin«, sagt Caren lächelnd. Hat sie das nicht eben schon gesagt?
    Er senkt zur Begrüßung leicht den Kopf. »Hallo«, murmelt er.
    »Ich bin deine Schwester!«, kreischt Sofia. »Nicht, Mama? Ich bin doch seine Schwester?«
    »Ja, mein Schatz.« Caren küsst ihre Tochter.

    Sein Vater nimmt das Mädchen ganz einfach huckepack, sagt ihr, dass sie den Kopf einziehen soll, und marschiert mit ihr voraus ins Wohnzimmer. Das hat er auch mit mir gemacht, denkt Marvel. Er weiß plötzlich noch, wie er sich am Kopf des Vaters festgehalten hat.
    Aha. Immer noch die weiße Schrankwand über die ganze Länge des Zimmers und immer noch der Glastisch mit den Fächern für die Zeitschriften. Immer noch das Panoramafenster in den Garten, die Rhododendronbüsche, die Schaukel, die oben im Kastanienbaum befestigt ist und vom Wind leicht bewegt wird. Vor der Tannenhecke ein Sandkasten aus rotem Plastik. Der ist neu.
    Aber neue Sessel. Heller. Moderner. Auf dem Boden eine Decke, auf der Spielzeug verteilt ist. Eine Tigerente. So eine hatte Marvel auch. An die kann er sich plötzlich erinnern.
    Sein Vater beobachtet ihn, folgt seinen Augen, die langsam durch den Raum wandern. »Was hältst du von einer kleinen Führung durch dein altes Reich?«
    »Okay«, sagt Marvel. Das kam schneller über seine Lippen, als er wollte.
    Sie steigen die Treppe hoch, er inspiziert das Bad, das neue Waschbecken bekommen hat. In das Schlafzimmer wirft er

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