Bis ins Koma
ständig berühren, stört ihn gar nicht.
»Und wie war’s so mit deinem Vater?«
»Ganz okay. Ging besser, als ich dachte.«
»Und seine neue Frau?«
»Na ja. Weiß nicht. Ich denke mal, sie bemüht sich.«
Miranda mustert ihn. »Sie bemüht sich?«
Marvel zuckt mit den Schultern. »Was soll ich sagen? Ich kenn sie ja nicht.«
Miranda nickt. Sie schweigt. Aber sie hat diese nachdenkliche steile Falte auf der Stirn. Marvel stellt sich vor, dass sie versucht, sich ein Bild von seinem früheren Leben zu machen. Das rührt ihn irgendwie. Aber er weiß nicht, wie er ihr das sagen soll.
»Und wie geht’s dir jetzt insgesamt?«, fragt Miranda schließlich.
»Gut, glaube ich.«
»Glaubst du’s oder weißt du’s?«
»Was weiß man schon.«
»Stimmt. Neulich hab ich mir einen Vortrag im Fernsehen angehört. Auf Phoenix. Über die Halbwertzeit von Wissen.« Sie
lächelt. »Ich glaub, ich hab nur ein Viertel verstanden. Wenn überhaupt. Aber es war interessant.«
»Was du dir alles antust!« Marvel räuspert sich. »Sie haben mein Zimmer so gelassen, wie es war.«
»Was?«, sagt Miranda ungläubig. Sie dreht sich zu ihm um und starrt ihm direkt ins Gesicht. Er kann das Mitgefühl in ihren Augen sehen.
»Sie haben daraus kein Prinzessinnenzimmer für meine Schwester gemacht oder so was. Sie haben es einfach so gelassen. Ich kann jederzeit dahin zurück.«
Miranda starrt ihn an. »Das ist ja unfassbar.«
Er atmet tief durch, lächelt. »Ich fass es nicht. Dass mein Vater über die Jahre immer noch irgendwie mit mir gerechnet hat.«
Miranda legt ihm ihre Hand auf die Schulter. Ganz leicht, diese Hand. Man merkt sie kaum. Und dennoch … Er ist von den Gefühlen so überwältigt, dass er sich an sie lehnt.
Miranda rückt erschrocken ein Stück von ihm ab. Sie sitzen wieder nebeneinander auf der Treppe.
»Ich kann jederzeit wieder hin. Er hat mir die Hausschlüssel gegeben«, sagt Marvel.
»Wow! Also gehst du da jetzt häufiger hin.«
Marvel tut einen Augenblick, als denke er ernsthaft darüber nach. Dann schüttelt er lächelnd den Kopf. »Nee, natürlich nicht. Schon wegen Mama. Und überhaupt.«
»Klar. Verstehe.«
»Da ist es superruhig. Da hörst du die Frösche im Teich.«
»Wow.«
»Das ist der Teich von den Nachbarn.«
»Klingt echt gut«, sagt Miranda. »Frösche im Teich. Und alles.«
»Mama«, sagt Marvin, »kann ich dich was fragen?«
Seine Mutter sitzt im Schlafzimmer auf der Bettkante, in ein Badetuch gehüllt, und rubbelt ihre nassen Haare mit einem Handtuch, auf dem kleine rote Marienkäfer leuchten. Sie mustert ihn. Und lächelt.
»Du machst aber ein ernstes Gesicht. Komm«, sie deutet auf den Platz auf der Bettkante, »setz dich.«
»Danke, ich bleib lieber stehen.«
»Was Ernstes?«, fragt seine Mutter.
»Weiß nicht. Möglich. Kann sein.« In seiner Hosentasche brennt der Haustürschlüssel, den sein Vater ihm gegeben hat. »Es geht um Papas Hochzeit.«
Babsi Keller zieht das Marienkäfer-Handtuch vom Kopf. Slow Motion. »Ja?«, fragt sie gedehnt. »Und?«
»Kannst du dich erinnern, ob Papa mir da eine Einladung geschickt hat?«
Seine Mutter legt das Handtuch aufs Bett und streicht es mechanisch mit den Fingern glatt. Marvel würde so was auch machen, um nicht aufschauen zu müssen.
»Das ist lange her«, sagt sie gedehnt. »Wie kommst du auf einmal darauf?«
»Mama! Kannst du die Frage vielleicht einfach beantworten?«
Seine Mutter seufzt plötzlich. Ihr Lächeln erlischt. »Das ist keine einfache Frage, Marvin.« Sie holt tief Luft. »Dein Vater und ich haben eine sehr schwierige Beziehung zueinander und …«
»Es geht jetzt aber zufällig nicht um dich und Papa, sondern um mich und Papa!« Marvel ist erregt. Sein Kopf glüht. »Darf ich vielleicht eine eigene Meinung haben?«
Seine Mutter erhebt sich. Als ihr Handtuch rutscht, zieht sie es fast verlegen über den Busen hoch. Sie tritt ganz dicht
an Marvel heran. »Was ist passiert?«, fragt sie leise. »Warum kommst du auf einmal mit so einer Frage?«
»Hast du nie damit gerechnet, dass diese Frage mal kommt?«
Seine Mutter senkt den Kopf. »Nein. Oder doch. Ja. Keine Ahnung.«
»Hat Papa mich zu seiner Hochzeit eingeladen? Ja oder nein?«
»Ja.« Seine Muter holt tief Luft. »Ich glaube, es war eine Einladung für dich gekommen. Ich hab das so pervers gefunden, so abartig, dass er annimmt, sein Sohn würde sich ein weißes Hemd anziehen und seinen Konfirmationsanzug, um Zeuge zu sein, wie sein eigener Vater
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