Bis ins Koma
Bier. Mit dem Bier verzieht er sich auf eine Bank unter dem Vordach des Hauptbahnhofs. Von hier aus kann er die Taxis beobachten. Die Fahrer lehnen an den Säulen, rauchen und reden. Manchmal kommt ein Fahrgast und dann wirft einer seine Kippe weg und öffnet die Wagentür, verstaut das Gepäck und Sekunden später sind sie weg.
Marvel wettet jedes Mal mit sich, ob sie vor dem Schauspielhaus rechts oder links abbiegen. Meistens liegt er falsch.
Er trinkt sein Bier. Ganz langsam. Er nuckelt es fast. Es ist inzwischen schon so warm wie das Bier zuletzt bei Onkel Herbie. Wenn er an Onkel Herbie denkt, muss er auch an seine Freunde denken und dann tut ihm der Magen sofort wieder weh.
Noch sechzig Minuten.
Ein Bettler, der seine Sachen auf einer Einkaufskarre vor sich herschiebt, hält eine Predigt. Immer wieder kommt das Wort »Jesus« vor und »Hölle«. Beides ungefähr gleich oft.
Noch fünfundvierzig Minuten.
Keinesfalls darf er zu früh kommen. Wenn er zu früh kommt, wird sein Vater die falschen Schlüsse ziehen. Er wird zum Beispiel denken, dass Marvel es gar nicht erwarten konnte, ihn zu besuchen, seine neue Frau kennenzulernen und seine Halbschwester. Das ist aber falsch.
Eine Mädchenclique, unheimlich rausgeputzt und geschminkt, läuft kichernd an ihm vorbei. Marvel schätzt die
Mädchen auf höchstens dreizehn. Plötzlich bleiben die Mädchen stehen, starren ihn an, schubsen sich gegenseitig und tuscheln. Marvel holt seine Sonnenbrille aus der Hemdtasche und setzt sie auf. Die Mädchen setzen sich in Bewegung, sie schieben sich gegenseitig vorwärts, verlegen kichernd, die Hände vor dem Mund.
Schließlich baut sich eine von ihnen vor ihm auf. »Wir haben gerade überlegt, ob du es bist.«
»Wer?«, fragt Marvel cool.
»Na, der Typ aus dieser Serie.«
»Was denn für eine Serie?«
Das zweite Mädchen schiebt sich mutig vor. Sie hat eine Zahnlücke. »Du bist der Max!«, ruft sie. »Ey, er ist es! Er ist es!« Sie juchzt plötzlich und stupst ihre Freundin in die Seite. »Ich hab ihn an der Stimme erkannt!«
»Komm, mach schnell Foto! Wo ist dein Handy?«, ruft eine mit ziemlichen Stöckelschuhen.
Und schon sieht Marvel, wie eine kleine Hand mit rot lackierten Nägeln ein Handy aufklappt und es ans Gesicht hält. Sofort drängen die Mädchen sich um ihn.
»Das dürfen wir doch?«, fragt das Mädchen mit dem Handy.
Marvel nickt. Das Bier macht ihn gelassen. Er sitzt breitbeinig da, in der einen Hand schaukelt die Bierflasche.
»Alle mal Eierspeise!«, ruft das Mädchen.
Marvel spürt, wie sie ihren Kopf ganz nah an seinen bringen. Ihre Haarspitzen kitzeln seine Nase. »Ameisenscheiße«, sagt er.
Ihm fällt plötzlich diese blöde Weihnachtskarte ein. Wie er zwischen seinem Vater und seiner Mutter sitzt und sie alle gleichzeitig Ameisenscheiße sagten. Oder war es Ameisenkacke?
Er steht auf, als das Foto gemacht ist, wirft die noch nicht
ganz leere Bierflasche in den Mülleimer und steuert den Taxistand an.
Die Mädchen laufen hinter ihm her.
Der Taxifahrer öffnet Marvel die Tür.
»Kriegen wir ein Autogramm?«, ruft die mit der Zahnlücke, als die Tür zuschlägt. »Bitte!« Sie macht einen Kussmund und drückt ihre Lippen gegen die Scheibe. Wenn man die Zahnlücke nicht sieht, ist sie richtig süß.
Der Taxifahrer setzt sich hinters Steuer und schaut ihn neugierig an. »Muss man dich etwa kennen?«
»Nein. Können wir an irgendeiner Tankstelle kurz halten?«
»Können wir. Was brauchst du denn?«
»Irgendwas zum Lutschen. Kaugummi oder Pfefferminzbonbons oder so was. Muss ja nicht gleich jeder merken, dass ich ein Bier getrunken hab.«
Ein merkwürdiges Gefühl beschleicht Marvel, als er auf dieses rote Klinker-Spitzdachhaus zugeht, sein Elternhaus. Obwohl er nun schon fast drei Jahre in der Wohnung in der Schlüterstraße wohnt, ist das immer noch das Haus, das er vor sich sieht, wenn er an das Wort ZUHAUSE denkt. Hier hat er seine komplette Kindheit verbracht. Und irgendeinen Teil seines Körpers oder seiner Seele muss er bei der überstürzten Flucht damals hier zurückgelassen haben. Selbst seine Füße reagieren merkwürdig, als die Gehwegplatten genau an den gleichen Stellen kippeln wie früher. Er streicht mit der flachen Hand über die Ligusterhecke und es kitzelt in den Handflächen wie früher. Der weiße Briefkasten, an den er mal den Smiley-Button geklebt hat, ist noch da und Waldi, der eiserne Schuhdackel mit dem abgebrochenen Schwanz - eine seiner kindlichen
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