Bis ins Koma
Wetter, den Jackpot oder die Bundesliga-Ergebnisse. Wenn das Abendbrot fertig ist, zieht er wieder los. Er könnte auch bleiben und mit der neuen Familie zu Abend essen, Caren lädt ihn jedes Mal ausdrücklich dazu ein, aber das will er nicht. Wegen seiner Mutter. Weil es sie schmerzen würde und weil Marvel keine Lust hat, seiner Mutter zu all den Schmerzen, die sie schon hatte, noch einen weiteren hinzuzufügen.
Seine Mutter weiß nicht, wie er seine Nachmittage verbringt. Sie hat es auch früher nicht gewusst. Insofern fühlt er da auch keine Verpflichtung, ihr genaue Auskunft zu geben.
Außerdem hat seine Mutter ja jetzt DocMike. Immer öfter hängt der bei ihnen zu Hause rum, immer häufiger passiert es, dass die Schlafzimmertür zu ist, wenn er nach Hause kommt, und er leises Lachen aus dem Schlafzimmer hört. Er findet das in Ordnung.
Wenn es seiner Mutter gut geht, muss er sich weniger Sorgen machen.
Alles läuft gut. Und außerdem hat Hotte von der Multimedia angerufen: Die zweite Staffel der Serie ist vom Sender in Auftrag gegeben worden. Marvel hat einen Luftsprung gemacht, aber er hat bislang noch niemandem davon erzählt. Hotte sagt, die Autoren arbeiten unter Hochdruck an den Drehbüchern. In drei Wochen soll schon die erste Klappe für die nächste Staffel fallen. »Und was dir gefallen wird«, hat Hotte prophezeit, »sie wollen deine Rolle noch ausbauen. Du wirst öfter auf dem Bildschirm zu sehen sein, in wichtigeren Szenen. Warne deine Lehrer schon mal vor, dass wir bald wieder mit einem Antrag auf Unterrichtsbefreiung vor der Tür stehen.« Hotte hat gelacht und Marvel hat auch gelacht.
Erst nachher ist ihm klar geworden, dass es nicht so einfach sein wird, seinen Lehrern diese Tatsache unterzujubeln. Sein Zwischenzeugnis war schlecht. Die Lehrer lächeln nicht mehr, wenn er sie grüßt, sondern nicken nur ernst. Ein Alarmzeichen. Ob sie ihn ein zweites Mal freistellen werden, ist nicht sicher. Er muss sich in den Arbeiten stark verbessern. Er lernt jetzt oft vor einer wichtigen Klausur die ganze Nacht hindurch.
Nur fürs Kino hat er immer Zeit. Filme gucken ist seine große Leidenschaft geworden. Miranda und er gehen am Wochenende jetzt oft zusammen ins Kino. Dann studiert er die Schauspieler und versucht hinter die Tricks der Regisseure und Kameraleute zu kommen. Er sitzt angespannt, die Hände zwischen den Knien, den Oberkörper vorgebeugt, und verfolgt jede Kamerabewegung, jeden Schnitt, während Miranda sich verstohlen bei den traurigen Szenen die Tränen aus den Augenwinkeln tupft.
Und wenn Marvel Miranda hinterher auf eine Cola einlädt, referiert er ihr haarklein, was ihm alles aufgefallen ist.
»Wenn die an deiner Schule Film als Lehrfach hätten«, behauptet Miranda, »bekämest du eine glatte Eins.«
Vielleicht. Aus dem Internet hat er sich jedenfalls schon mal die Hochschulen heruntergeladen, die ein Film- & Fernsehstudium anbieten. Babelsberg in Potsdam oder die Akademie in München reizt ihn am meisten.
Und aus der Bibliothek hat er sich die Biografien von Woody Allen, Pedro Almodóvar, Hitchcock, Billy Wilder, Scorsese und Stephen Spielberg geholt. Er erzählt Miranda stundenlang von dem aufregenden Leben der Leute in Hollywood.
»Du bist ja echt besessen«, sagt Miranda.
Marvel nickt. »Ja. Bin ich wohl.«
»Deine Mutter sagt immer, dass du später Jura studierst.«
»Auch Mütter können sich irren.«
Dann der Schock. So unvorbereitet, so dermaßen »aus dem Off«, wie die Filmleute sagen, dass es Marvel buchstäblich die Beine wegreißt.
Hotte ruft an. Aus der Produktion. Seine Stimme ist kalt und hart wie Eis. Er kommt sofort zur Sache. »Hast du einen Computer zu Hause?«
»Ja, klar«, sagt Marvel. »Tag, übrigens.«
»Tag. Dann geh mal ins Internet. Und google ›betrunkene dekorieren.de .‹«
Marvel lacht. »Was soll das denn sein?«
»Das ist eine Seite, wo man Fotos von dekorierten Betrunkenen angucken kann, die irgendwelche Leute ins Netz stellen«, erwidert Hotte kalt. »Ich merke, du hast keine Ahnung.«
Marvel schluckt. Etwas Kaltes, Unangenehmes kriecht an seiner Wirbelsäule hoch.
»Keine Ahnung wovon?«, fragt er.
»Unter dem Stichwort ›Coole Zeiten‹ findest du ein Foto von dir. Ich sag jetzt nichts weiter dazu. Guck es dir an.«
Marvel versteht gar nichts mehr. Er hat Angst, dass Hotte auflegen wird. »Hotte«, schreit er, »leg nicht auf, bitte! Sag mir, was passiert ist.«
Hotte zieht tief die Luft ein. Marvel kann es hören.
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