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Bis ins Koma

Titel: Bis ins Koma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Blobel
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Anorak. O verdammter Mist.
    O Mann.
    Marvel kämpft mit den Tränen. Er schämt sich. Er will sich an die Nacht nicht erinnern. Aber es ist alles wieder da: Wie er zu Hause zu sich gekommen ist, wie er gestunken hat, seine Klamotten, seine Haut, seine Haare, alles hat gestunken, nach Wodka, nassem Gras, nach dem modrigen Uferschlamm da unter der Brücke.
    O Gott. Und jetzt steht das im Netz. Und jeder kann es sehen.
    Jojo, Billy, Mauki.
    Miranda!
    Die ganze Schule!!
    Die Lehrer!!
    Der Direktor!!!!
    Seine Mutter!!!!
    Und wenn die bei seinem Vater in der Redaktion …
    Bei der Multimedia wissen sie es schon. Er sieht es vor sich, wie sie sich alle im Büro der Drehbuchschreiber über die Bildschirme beugen.

    Wie soll er denen je wieder unter die Augen treten?
    Was soll er sagen?
    Wie soll er das erklären?
    Was gibt es da überhaupt noch zu erklären?
    Und das Schlimmste: Was einmal im Netz steht, kriegt man nicht wieder raus.
    In zehn Jahren kann jemand dieses Bild immer noch anklicken. Wer weiß, vielleicht wird das Foto berühmt, vielleicht heißt es irgendwann, dass eine Million Menschen seinen bleichen Bauch angeklickt haben und seinen Pimmel, mit nassem Herbstlaub garniert.
    Er darf sich nicht drücken, so viel ist klar. Er muss diesen Canossagang zur Multimedia antreten. Er muss Hotte, Biggi, Jannis und allen anderen unter die Augen treten. Man wird eine Erklärung von ihm verlangen, wie es dazu kommen konnte.
    Und er wird nicht wissen, was er sagen soll.
    Weil er sich, verdammt noch mal, nicht erinnern kann!
    Er hatte nicht den blassesten Schimmer, dass jemand ihn halb ausgezogen, verunstaltet und fotografiert hat.
    Er hat nicht den geringsten Verdacht, wer das gewesen sein könnte!
    Laufen Leute nachts mit ihrem Handy rum und machen Fotos von Besoffenen?
    Jedes Wochenende gibt es Partys auf Hamburgs Straßen, die Polizei erlaubt schon keine Glasflaschen mehr im Reeperbahnbereich, versucht die im Internet angekündigten Saufpartys zu verhindern. Bislang ohne Erfolg.
    Wie viele Besoffene liegen wohl in den Nächten von Samstag auf Sonntag irgendwo in den Parks, auf Bänken, in U-Bahn-Schächten herum? So besoffen, dass sie ihre Umgebung nicht mehr wahrnehmen, dass sie nicht merken, was andere mit ihnen anstellen?

    Und er, Marvin Keller, ist einer von ihnen.
    Er war so breit, dass er einen Filmriss hatte. Einen Blackout. Er kann sich an nichts erinnern. An absolut nichts.
    Aber wollen die bei der Multimedia so was hören? Geht das als Entschuldigung durch, wenn er sagt: Tut mir leid, liebe Leute, aber ich war breit?
     
    Er kleidet sich sorgfältig. Er steht länger im Bad als sonst. Er bügelt sein Hemd noch mal auf, bevor er es anzieht. Er benutzt mehr Deo als sonst, als habe er Angst, man könne den Alkohol immer noch riechen. Er trinkt in der Küche ein Glas Orangensaft. Vitamin C hilft in allen Lebenslagen.
    Dann legt er seiner Mutter einen Zettel hin: »Bin kurz im Studio«, und zieht die Wohnungstür hinter sich zu.
    Miranda kommt gerade die Treppe vom dritten Stock heruntergehüpft, als sei das Leben eine Wundertüte. Sie strahlt, als sie Marvel sieht, und gibt ihm, wie es jetzt zwischen ihnen üblich geworden ist, einen kleinen Kuss auf die Wange. Mehr läuft zwischen ihnen nicht.
    Marvel hat beschlossen, dass Miranda ihn wie einen großen Bruder liebt. Und er sie wie eine etwas jüngere Schwester, die zufällig sehr gut aussieht und deren Hals so betörend riecht wie kein anderer Hals. Ganz abgesehen von ihrem Lachen, das sich wie in Wellen in seinem Unterleib fortsetzt. Miranda lacht neuerdings häufig. Sie wirkt irgendwie glücklich. Sie sieht nicht aus wie jemand, der den Chat von »Coole Zeiten« in den letzten Tagen angeklickt hat. Er hat noch eine Galgenfrist.
    »Hey«, ruft sie, »welche Laus ist dir denn über die Leber gelaufen?«
    »Wieso? Keine.«
    »Und warum dann so ernst?«
    »Ernst? Ich? Nö.«

    Zu einem richtigen Satz ist er nicht fähig. Das Foto, dieses Scheißfoto, krallt sich in seinem Kopf fest und lässt keinen Raum für etwas anderes.
    »Ich hab ein Date«, erklärt Miranda lachend. »Klingt komisch, was? Drück mir die Daumen.«
    »Wofür denn? Was für ein Date?«, fragt Marvel, obwohl es ihn nicht wirklich interessiert.
    Miranda tritt dicht zu ihm und flüstert ihm ins Ohr: »Er heißt Tim. Er ist total süß! Er ist der Bruder von Annika! Ich treff mich mit ihm im Starbucks. Das ist unsere Lieblingskneipe.«
    Sie haben schon eine Lieblingskneipe, denkt Marvel. Irgendwie

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