Bis ins Koma
Jauche ziehen.«
Marvel nickt. Er zittert. So lange hat er sich zusammenreißen können, jetzt weicht auf einmal die Anspannung und seine Gelenke schlottern.
»Wenn du ein Mal zum Dreh kommst und ich den Verdacht habe, dass du was getrunken hast, und sei es auch nur ein halbes Pils: Da ist sofort ein Arzt da, der einen Bluttest macht«, erklärt Hotte ernst. »Und alles, was mehr als 0,0 Promille ist, bedeutet: Klappe. Aus. Ende. Hast du das kapiert?«
Marvel nickt. Er ist so erschöpft, dass er sich nicht einmal freuen kann. Nichts kann er fühlen als eine große, tiefe Erschöpfung.
»Wenn nur das Geringste vorfällt, bist du weg, Junge«, sagt Hotte wieder.
Marvel räuspert sich. Er flüstert. »Es wird nichts vorfallen.«
»Versprichst du das?«
»Ja«, sagt Marvel.
»Und kannst du mir dabei auch in die Augen sehen?«
Marvel hebt den Blick.
Hotte lächelt. Er schlägt Marvel seine Pranken auf die Schulter. »Wir machen im Leben alle mal Scheiß«, sagt er. »Aber das Gute ist, dass wir daraus lernen können. Du bist doch ein schlaues Kerlchen. Wenn du noch nicht alle grauen Zellen versoffen hast, weißt du doch selbst, was du tun musst.«
»Ja, weiß ich.«
»Alkohol löst keine Probleme«, sagt Hotte. »Alkohol macht sie! Dafür bist du selbst ja ein hervorragendes Beispiel.«
Marvel lebt wie unter einer Glasglocke, wie in einem Zwischenreich, wo all die Dinge wie Aufstehen, Frühstücken, Klausuren schreiben und Einkaufen nur noch eine virtuelle Bedeutung haben. Marvel fühlt sich nicht mehr wie jemand, der sein eigenes Leben im Griff hat, der mit seinen Handlungen irgendeinen Einfluss auf sein Leben hat, denn der wirkliche Marvin Keller ist im Internet zu besichtigen, unter »betrunkene-dekorieren. de«. Der wirkliche Marvin Keller, halb nackt und besoffen, wird als Foto immer wieder um die Erde geschickt, von einem User zum nächsten, wird heruntergeladen und weitergeleitet, von Leuten kommentiert und ausgelacht, die Marvel nie in seinem Leben gesehen hat und die er nie sehen wird.
Eines Tages, wenn er sich irgendwo bewirbt, wird ihm der Personalchef vielleicht dieses Foto ausgedruckt vor die Füße werfen und sagen: »Ist das Ihr Ernst? Dass Sie sich hier bei uns bewerben? Halten Sie uns für eine Kirmesbude, oder was?«
Er hat Albträume. Er bewegt sich wie ein Schlafwandler. Weicht jedem Gespräch aus, weil er glaubt, es würde unweigerlich auf diesen Punkt zusteuern. Grüßt die Nachbarn nur noch mit gesenktem Kopf, geht nie ohne Sonnenbrille und Kapuze aus dem Haus, die blaue Mütze zieht er tief in die Stirn.
Jeder neue Tag ist genauso eine Qual wie der vergangene. Er
fährt in einen Tunnel hinein und sieht am Ende kein Licht. Es gibt kein Entrinnen. Es wird einfach nicht besser. Durch die Sanduhr rinnt die Zeit, und wenn die Uhr abgelaufen ist, tut sie einen Schlag, irgendjemand rüttelt ihn und sagt: »Ich hab dich gesehen. Im Internet.«
Und das ist wie ein Richterspruch: »lebenslänglich«.
Geschlagene zwei Wochen hat Marvel jede Nacht heimlich vor dem Computer gesessen und geguckt, ob sein Foto noch da ist. Es war noch da. Die Einträge dazu sind täglich mehr geworden. Er konnte sich jedoch nicht dazu durchringen, sie zu lesen. Jede Nacht, wenn er im Bett lag, hat er sich vor Scham zusammengerollt wie ein Kleinkind. Er wäre gern unsichtbar geworden. Im Bad hat er nicht mehr in den Spiegel geschaut. Er konnte sein Gesicht nicht ertragen.
Geschlagene zwei Wochen ist Marvel morgens mit Magenschmerzen in die Schule gegangen, hat ängstlich in jedes Gesicht geguckt, auf eine Reaktion gelauert.
Haben sie es schon gesehen? Wer kennt das Foto?
Jedes Mal wenn Huberti mit ernstem Gesicht in die Klasse kam, ist ihm das Herz in die Hose gerutscht. Wenn der Blick eines Lehrers länger als eine Viertelsekunde auf ihm ruhte, glühte sein Kopf.
Auf dem Klo hat er die Sprüche studiert, die sie an die Wand geschrieben haben, aus Angst, da könnte etwas über ihn stehen.
Aber da war nichts.
Bis jetzt.
Und was ist mit Miranda? Sie meldet sich nicht, sie ruft nicht an, sie wartet nicht mehr im Treppenhaus auf ihn. Sie waren seit gefühlten Ewigkeiten nicht mehr zusammen im Kino. Sie haben seit Ewigkeiten nicht mehr zusammen gelacht.
Das macht sie jetzt alles mit Tim, während er allein in seinem Zimmer hockt.
Was ist mit den beiden? Wollte Miranda ihm diesen Typen nicht vorstellen?
Ha, Straight Edge!
Einer, der keinen Alkohol trinkt. Dem so was nie passieren würde. Weiß
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