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Bis ins Koma

Titel: Bis ins Koma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brigitte Blobel
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Miranda es schon? Hat jemand in ihrer Schule sie vielleicht auf das Foto aufmerksam gemacht? Er will sich ihr Gesicht nicht vorstellen, wenn sie ihn da sieht, so jämmerlich und widerlich. Es macht ihn krank, sich das vorzustellen, aber wie unter Zwang sieht er immer wieder Miranda vor dem Computer - sie spielt doch so gerne -, und wie sie auf einmal, beim Zappen durch irgendeinen Chat, auf seinen Namen stößt und dann auf sein Foto.
    Er steht jetzt manchmal im Treppenhaus und lauscht, ob ein Geräusch aus ihrer Wohnung kommt.
    Er traut sich nicht, zu klingeln. Oder sie anzurufen.
    Auch ihre Eltern sind auf einmal unsichtbar. Es kommt ihm vor, als machten alle Nachbarn einen Bogen um ihn, als schämten sie sich, mit ihm unter einem Dach zu wohnen.
    Wenn er nach Hause kommt und seine Mutter vor dem Computer sitzt, gerät er sofort in Panik. Dann erfindet er die blödesten Ausreden, um sie von dem Ding wegzulocken.
     
    Er hat auch den Schlüssel vom Haus seines Vaters nicht mehr benutzt. Er traut sich ihnen nicht mehr unter die Augen. Sofia, die ihn anhimmelt wie einen tollen großen Bruder. Wenn die wüsste …
    Und sein Vater. Wenn er an seinen Vater denkt, klumpt sich in ihm alles zusammen, dann wird seine Speiseröhre eng, sein Gaumen so rau wie Schmirgelpapier. Wenn er sich ausmalt, wie sein Vater das Foto von ihm entdeckt, möchte er tot sein.

    Sein Vater ruft ihn jetzt manchmal auf dem Handy an. Er möchte sich mit ihm zum Essen verabreden. Er fragt, wann Marvel wieder mal vorbeikommt, erzählt, dass die kleine Sofia immer nach ihrem Bruder fragt.
    Marvel redet sich raus. Viel zu tun in der Schule, nachmittags Gruppenarbeiten etc. Dabei weiß er, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis sie es erfahren, bis alle es erfahren.
    Schlimmer kann sich auch ein Todeskandidat nicht fühlen, der den Tag der Hinrichtung noch nicht kennt.
    Dennoch vergeht die Zeit. Seit vier Wochen ist die Serie nicht mehr im Programm und so verliert sich in den Medien auch schnell das Interesse an den Schauspielern. Andere Filme laufen an, andere Serien werden mit großem Pomp gestartet. Jeden Tag gibt es weniger Klicks auf die Seiten von Coole Zeiten.
    Am Anfang hat er sich überwunden und sich bei »betrunkene-dekorieren. de« immer wieder eingeloggt, um zu sehen, ob es neue Einträge zu seinem Foto gibt.
    Er hat sie nicht gelesen. Er hat es nicht über sich gebracht. Es hat ihn krank gemacht.
    Er hat versucht, dieses verdammte Bild zu löschen, vergeblich. Er hat alles versucht. Es ist nicht so, als wenn er keine Tricks kennen würde.
    Und dann, eines mittwochs, als er gerade einen Nudelteller in die Mikrowelle stellt, ruft Hotte an.
    Seine Stimme ist wieder weicher, freundlicher.
    »Wie geht’s?«, fragt er.
    »Danke, beschissen«, sagt Marvel wahrheitsgemäß.
    Er hört, wie Hotte leise auflacht. »Gut.«
    Was soll daran gut sein?, denkt Marvel.
    Aber Hotte hat positive Nachrichten. »Du kannst unserer Rechtsabteilung einen Blumenstrauß schicken.«

    »Wieso?«
    »Sie haben es endlich geschafft.«
    »Was?«
    »Dein Foto ist vom Netz.«
    »Nein!«
    »Doch. War ein hartes Stück Arbeit. Der Homepagebetreiber hat sich erst quergestellt. Aber dann haben unsere Juristen mit dem Minderjährigen-Paragrafen operiert und irgendwann hatten sie ein Einsehen.«
    »Oh, wow.« Marvel schießen die Tränen in die Augen. Er schluckt, er räuspert sich. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich dachte schon, der Albtraum hört nie auf.«
    »Jetzt hat er aufgehört. In zwei Wochen kriegst du den Vertrag für die nächste Staffel.«
    »Danke, Hotte.«
    »Schon gut. Bleib sauber, ja?«
    »Klar. Mann, bin ich froh!«
    Marvel hebt 50 Euro von seinem Konto ab und schickt einen filmreifen Blumenstrauß an die Rechtsabteilung der Multimedia. Auf dem Kärtchen steht nur ein Wort: »Danke!«
    Und dann fällt langsam, ganz langsam der Stress von ihm ab. Die Welt wird wieder heller und die vorherrschende Farbe ist nicht mehr grau.
    Ganz allmählich kommen wieder Tage, da wacht er morgens auf und fühlt sich gut.
    Er meldet sich in der Schule für ein Referat, worauf sonst keiner Lust hat. Übernimmt die Aufsicht im Pausenhof, arbeitet freiwillig in der Schülerbibliothek. Und alles, was er tut, erfüllt ihn mit Freude. Wenn er seine Mutter trifft, nimmt er sie in den Arm und lacht. Und sie fragt verblüfft: »Hey Großer, was ist mit dir?«
    »Nichts, Mama, ich freu mich nur.«

    »Und worüber speziell?«
    »Nichts Spezielles. Nur das Leben. Ganz

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