Bis nichts mehr ging: Protokoll eines Ausstiegs (German Edition)
so nicht ewig weitermachen kann. Ich spüre es und werde trotzdem noch mehr als vier Jahre brauchen, bis ich die Reißleine ziehe. Vier Jahre. Bis nichts mehr geht.
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Rückblende
1972–2004
Wenn jemand sagt, er habe eine gute Kindheit gehabt, frage ich mich manchmal, ob auch ich so über meine Kindheit urteilen würde. Normalerweise meint man damit ja, behütet aufgewachsen zu sein. Das bin ich. Meine Eltern waren da, sie waren aufmerksam, mein drei Jahre jüngerer Bruder und ich spielten eine wichtige Rolle im Familienleben. Eine gute Kindheit ist frei von Gewalt und traumatischen Erlebnissen. Soweit ich das erinnere, war meine das auch. Das heißt nicht, dass es keine schlimmen Momente gab, keine seelischen Verletzungen, keine prägenden Tiefpunkte. Ich bin in keinem Paradies groß geworden und war nicht in einen Kokon gebettet. Aber meine Umgebung bot mir alles, was ich liebte.
Bis zur dritten Klasse wohnten wir im Hamburger Westen nahe der Elbe in einer großen Mietswohnung mit weitläufigem Garten. Ein Teil war verwildert mit großen Tannen, Kiefern, buschigen Brombeer- und Stachelbeersträuchern. Dieser Teil war während der ersten Grundschuljahre mein Ein und Alles. Auf dem Weg dorthin habe ich Baustellen eingerichtet, Gruben gegraben, Gehwegplatten an einem Tag aus- und am nächsten wieder eingebuddelt. Ich brauchte immer eine Aufgabe und verfolgte sie mit unheimlicher Energie.
Meine besten Freunde wohnten in der Nachbarschaft, einer gutbürgerlichen Gegend. Die meisten Eltern tickten linksliberal, waren mit der Politik von Bundeskanzler Helmut Schmidt nicht immer einverstanden und demonstrierten am Wochenende auf Fahrrädern vor dem AKW Brokdorf gegen Atomkraft. Wir Kinder protestierten mit, waren Teil einer Bewegung und erlebten die Geburtsstunde der Grünen.
Mit meinen beiden besten Freunden, Fridolin und Axel, bin ich mit Gokarts, Rollern oder Rädern durch die Gegend getourt, immer auf Entdeckungsreise. Wir fanden Höhlen, beobachteten Tiere, begegneten Menschen, denen wir die wildesten Geschichten andichteten, fuhren im Kajak auf der Elbe, machten am Rande des Wochenmarkts auf einer Wolldecke einen Flohmarkt und organisierten im Sommer auf dem Schlittenhügel im Park Kämpfe. Unser Mann war Shin, ein aus Südkorea adoptierter Mitschüler, 1980 der einzige Ausländer in unserer Klasse und trotz seiner nur durchschnittlichen Größe bärenstark. Er konnte Judo oder Karate, irgendeine Kampfsportart jedenfalls. Wir ließen Shin gegen die Großmäuler aus den Parallelklassen antreten und wetteten auf ihn. Eine Mark auf Shin. Wir gewannen immer.
Obwohl ich eher schüchtern und gerade im Beisein fremder Menschen oft zurückhaltend war, gab ich in meiner kleinen Clique den Ton an. Ich selbst fühlte mich in dieser Rolle wohl, solange ich nicht drauf angesprochen wurde, sondern unkommentiert losmarschieren konnte.
1981, ich war fast neun, zogen meine Eltern mit uns in den Sommerferien von Hamburg nach München. Damals war ein Ortswechsel des Jobs wegen, im Gegensatz zu heute, die Ausnahme. Meine Eltern taten sich schwer mit Bayern, verstanden die Menschen nicht, was sowohl für die Sprache als auch für die Mentalität galt. Besonders meine Mutter war todunglücklich: Sie war Lehrerin und kam mittags oft weinend nach Hause, wenn ihr die Schüler mal wieder die Hölle heißgemacht, sie wegen ihres norddeutschen Akzents aufgezogen und nicht für voll genommen hatten. Letztlich hat sie sogar ihren Beamtenstatus aufgegeben und eine neue Ausbildung begonnen. Heute ist sie Psychotherapeutin für Kinder und Jugendliche.
Mein Vater war Jurist bei einer Versicherung. Ich hatte selten das Gefühl, dass er morgens gern zur Arbeit geht und abends erfüllt wiederkommt. Er ist «zum Dienst» gegangen, weil es sein musste. Punkt. Wie er mir später mal erzählte, hatte er eigentlich Kinderarzt werden wollen und nur auf Wunsch seiner Eltern eine Banklehre gemacht und Jura studiert.
An einem seiner ersten Tage im Münchener Büro hat er sich bei seinen neuen Kollegen zum Feierabend mit einem hamburgischen «Tschüs» verabschiedet. Sie haben ihn strafend angeguckt und ihn belehrt, dass man in Bayern «Auf Wiederschaun» sage. Mein Vater hat sich geärgert, aber er hat sich gefügt. Ihm, aber auch meiner Mutter war daran gelegen, nicht allzu sehr aufzufallen. Die Meinung anderer Leute zählte was. Dabei waren meine Eltern selbst immer locker, erzogen meinen Bruder und mich «Laisser-faire». Ich
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