Bis nichts mehr ging: Protokoll eines Ausstiegs (German Edition)
Parallelwelten. Unsere Beziehung drohte zu scheitern, wenn ich im Job nicht vom Gas gehen würde.
Ich versuchte, einen Kompromiss hinzubekommen. «Morgen und übermorgen komme ich früh nach Hause und bringe Samy ins Bett, versprochen», sagte ich immer wieder nach Diskussionen über meine Arbeitszeiten. Spätestens am zweiten Tag brach ich mein Versprechen. Mir tat das leid, vor allem für meinen Sohn, den ich kaum sah, allenfalls morgens kurz nach dem Aufstehen. Ab und an brachte ich ihn in den Kindergarten. Abends schlief er jedoch oft schon, wenn ich mich zu Hause blicken ließ. Streit war da programmiert. Dennoch strengte ich mich nicht an, verlässlicher zu werden. Vielleicht war ich da schon bereit, meine Ehe meiner Karriere zu opfern. Bewusst habe ich das nie entschieden, dagegen gestemmt habe ich mich allerdings ebenso wenig.
Kam ich morgens in die Redaktion, blühte ich auf. Ich fehlte nie, auch dann nicht, wenn ich krank war. Selbst mit Fieber ging ich arbeiten. Nachts eine halbe Flasche Wick MediNait , morgens drei Aspirin , fertig. Gedanken darüber, dass ich damit auf Dauer Raubbau an meinem Körper betrieb, machte ich mir nicht. Ich war jung und da, wo ich sein wollte.
Auch am 12. September 2001 war ich angeschlagen ins Büro gefahren. Wegen 9/11 hatten wir am Vortag bis nach Mitternacht gearbeitet und die Zeitung immer wieder aktualisiert. Nachts hatte ich ein Gefühl, als bekäme ich eine Grippe. Ich fuhr trotzdem ins Büro. Der Tag entwickelte sich zum ereignisreichsten meiner Reporterjahre. Durch Zufall und auf einigen Umwegen hatten wir Wind von einer Spur bekommen, die von den Anschlägen auf das World Trade Center in unsere Stadt führte. Polizei und Innenbehörde hatten noch weniger Informationen als wir und hielten sich zurück.
Ich witterte die Geschichte meines Lebens. Sollte sich der Tipp als Nullnummer erweisen, hätten wir dafür zwei Stunden Recherche in den Sand gesetzt. Doch er erwies sich als Volltreffer, und so stand ich mit meinem Fotografen als einer der ersten beiden Journalisten im Haus der Todespiloten von New York. Hamburg-Harburg, Marienstraße 54.
Ein junges Ehepaar öffnete uns die Haustür. Das Namensschild Mohammed Attas am Briefkasten hatte jemand abzukratzen versucht. Mohammed Atta, Marwan Al-Shehhi, Ziad Jarrah. Die Todespiloten. Sie alle waren in der Marienstraße ein und aus gegangen.
Eine Stunde nach unseren Interviews mit den Nachbarn und einem Foto durch den Briefkastenschlitz in die verlassene Wohnung war die Marienstraße abgeriegelt. Polizei, BKA, FBI. Und immer mehr Journalisten aus der ganzen Welt.
Ich bin die nächsten vierundzwanzig Stunden nicht ins Bett gegangen, meine Erkältung war vergessen, das Adrenalin und jede Menge Aspirin dämpften die Symptome. Die Möglichkeit zur Recherche rund um die «Hamburger Terrorzelle» war das Größte, was mir als Polizeireporter einer Lokalzeitung passieren konnte. Die Mopo war die einzige Zeitung, die am 13. September mit einer Schlagzeile über die Terroristen aus Hamburg-Harburg berichtete. Tags darauf tat es nahezu jedes Medium weltweit. Viele bebilderten ihre Beiträge mit einem Foto unserer Ausgabe. Wir hatten einen Scoop gelandet. Die kleine Mopo hatte es allen gezeigt. Bei der Konkurrenz herrschte dicke Luft, wie mir ein befreundeter BILD -Reporter erzählte, den ich auf der Straße traf.
In jener Zeit sah ich nahezu jede Doku über das Grauen. Die Reportage der französischen Dokumentarfilmer, die am Tag der Anschläge den Alltag einer Feuerwache in Manhattan begleiten wollten und von der einen auf die andere Sekunde vor der größten beruflichen Herausforderung ihres Lebens standen, beeindruckte mich. Mehrmals guckte ich mir den Film an, der einige Monate nach 9/11 das erste Mal im Fernsehen lief. Ich wollte für meine Artikel ein Gefühl unmittelbarer Nähe zum Unfassbaren bekommen, von dem Wahnsinn, der in meiner Stadt minuziös geplant worden war, ohne dass irgendwer auch nur den Hauch einer Ahnung davon hatte.
Durch Interviews mit ehemaligen Begleitern aus Harburg erfuhr ich viele Details über das Leben der Täter, lernte ihre Wohnung, ihre Uni, ihre Läden, ihre Moschee kennen. Ein Mysterium blieb für mich der Tatort. New York.
Mehr als neun Jahre später sollte die Stadt für mich beruflich noch einmal eine bedeutende Rolle spielen.
Etwa ein Jahr nach den Anschlägen merkte ich, dass ich meinen Job zunehmend als Routine empfand. Ich hatte nach den aufregenden Tagen im September 2001
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